Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels

Der demografische Wandel wird schon bald etwas kosten

2006 | Jahrgang 3 | 1. Quartal

Keywords: Altersstruktur, Arbeitszeit, Bevölkerungsentwicklung, Rostocker Index

James W. Vaupel und Elke Loichinger

Die Zahl der Älteren nimmt zu, die der Jüngeren ab. Durch die veränderte Altersstruktur der Bevölkerung entstehen Belastungen und Kosten. Die Diskussion über die Folgen des Alterungsprozesses konzentriert sich häufig darauf, dass künftig immer mehr Rentner immer weniger Beitragszahlern gegenüberstehen werden – vor allem wenn die geburtenstarken Jahrgänge um 2030 im Ruhestand sind. Doch nicht nur die umlagefinanzierten sozialen Sicherungssysteme müssen sich anpassen, sondern auch die Beschäftigtenstruktur. Am Rostocker Zentrum ist ein Index entwickelt worden, der die gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen des demografischen Wandels misst und Vergleiche zwischen Ländern oder Regionen ermöglicht. Der Index zeigt, dass Kosten schon entstehen, bevor die „Babyboomer” in Rente gehen: dann, wenn sie die älteren Arbeitnehmer stellen. 

Abb. 1: Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland in den Jahren 1890, 2003 und 2025; Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland (StBA).

Vor 100 Jahren spiegelte sich die Bevölkerung in einer Pyramidenform wider (siehe Abbildung 1) – die vielen Jungen bildeten die Basis, die wenigen Älteren die Spitze. Heute hat sich die Pyramide zu einer zwiebelartigen Form verändert. Die geburtenstarken Jahrgänge der 1950er- und 1960er- Jahre schieben sich wulstartig Jahr für Jahr weiter nach oben. Da es gleichzeitig weniger Kinder gibt, wird die Zwiebel zur Urne. 

Was bedeutet dies für die wirtschaftliche Entwicklung? Herkömmliche Standardmaße wie der Abhängigkeitsquotient, der das Verhältnis der zu versorgenden Jungen (unter 20-Jährige) und Älteren (über 65-Jährige) zu der erwerbsfähigen Bevölkerung mittleren Alters (20- bis 65-Jährige) angibt, gehen von einer gleichmäßigen Erwerbstätigkeit bei Menschen mittleren Alters aus. Doch die Wirklichkeit ist anders. Vor allem unter älteren Erwerbsfähigen sind die Beschäftigungsquoten in vielen Ländern, wie in Deutschland, extrem niedrig. Das resultiert unter anderem aus schwierigen Wiedereinstiegschancen für ältere Arbeitslose und der Frühverrentungspraxis. 

Tab. 1: Rückgang der wöchentlichen Arbeitsstunden 2005 bis 2025 in Prozent: Quelle: StBA u.a. (eigene Berechnungen).

Der Rostocker Index verdeutlicht, wie schnell sich die insgesamt geleistete Arbeitszeit in einer alternden Gesellschaft verringert, nehmen Ältere auch in Zukunft so wenig am Erwerbsleben teil wie heute. Der Index besteht aus zwei Maßzahlen. Das erste Maß (H), misst die durchschnittlich gearbeiteten Stunden pro Kopf pro Woche in der Bevölkerung, also vom Säugling bis zum Greis, gleich, ob erwerbstätig oder nicht. Der Durchschnittswert H liegt daher deutlich unter den knapp 40 Stunden einer Vollerwerbsstelle. Gegenwärtig beträgt die durchschnittlich gearbeitete Stundenzahl in Deutschland 16,5. In den USA werden durchschnittlich 18,5 Stunden gearbeitet, in Frankreich 15,3. Der H-Wert ändert sich innerhalb einzelner Länder im Laufe der Zeit. Lag er vor 20 Jahren in Deutschland wegen einer höheren Beschäftigtenquote noch bei 16,9, so wird er in den kommenden 20 Jahren auf 15 sinken – und dies rein aufgrund der demografischen Entwicklung. Weniger geleistete Arbeit pro Einwohner bedeutet weniger Einkommen und geringere Verteilungsspielräume. 

Doch wann ist der demografische Wandel die Hauptursache für den schrumpfenden Arbeitseinsatz? Ein Sinken der durchschnittlich gearbeiteten Stunden kann viele Gründe haben, etwa einen Anstieg der Arbeitslosigkeit, eine geringere Frauenerwerbsquote und längere Ausbildungszeiten. Das zweite Maß des Rostocker Index für den Demografischen Wandel (R) misst die prozentuale Änderung in H von einem Zeitpunkt zum nächsten. Diese Änderung ist allein der demografiebedingt veränderten Beschäftigtenstruktur zuzuschreiben. Dabei ist das Altern, nicht das Schrumpfen der Bevölkerung entscheidend. 

Ein Blick auf die Entwicklung der vergangenen 20 Jahre zeigt eine positive Bilanz. Mag die Zahl der durchschnittlich geleisteten Arbeitsstunden auch um knapp eine halbe Stunde gesunken sein – an der demografischen Entwicklung lag dies nicht. Die mittlere bauchige Pyramide der Bevölkerung Deutschlands im Jahr 2003 erklärt diesen Effekt (Abbildung 1): Die vielen „Babyboomer”, heute etwa 40 bis 50 Jahre alt, stehen für das Erwerbsleben bereit und haben im Vergleich zu vorangegangenen Generationen für weniger Kinder zu sorgen. Betrachtet man das Verhältnis von Erwerbsfähigen zu nicht mehr erwerbsfähigen Rentnern und der noch nicht erwerbsfähigen nachwachsenden Generation, so hat Deutschland gegenwärtig einen schwachen demografischen Bonus von 0,3 Prozent. 

Der Vorteil wird sich in den nächsten 20 Jahren, wenn die geburtenstarken Jährgänge älter werden, ins Gegenteil verkehren. Schon in wenigen Jahren ist das Sinken der durchschnittlich geleisteten Arbeit vorallem dem gesellschaftlichen Alterungsprozess zuzuschreiben. Alle industrialisierten Länder mit alternden Gesellschaften gehen einem demografischen Defizit entgegen. Für Deutschland prognostizieren die Rostocker Wissenschaftler, dass fast neun Prozent weniger gearbeitet wird als heute, wenn die vielen Älteren weiter wenig und die wenigen Jungen viel arbeiten. Dies führt zu einem Verlust an Arbeitskraft, der mit der heute in Deutschland zu verzeichnenden Arbeitslosigkeit zu vergleichen ist. Arbeitspotenzial bleibt ungenutzt. 

Der Rostocker Index stellt heraus: Die Zunahme der älteren Erwerbsfähigen (nicht die Zunahme der Rentner) verursacht in den nächsten 20 Jahren maßgeblich den demografiebedingten Rückgang an geleisteter Arbeit. Es geht um die unter 70-Jährigen, die noch erwerbsfähig wären, tatsächlich aber kaum mehr in den Arbeitsmarkt eingebunden sind. Der Anteil der erwerbsfähigen Älteren verursacht wesentlich höhere wirtschaftliche Kosten als der Anteil der nicht mehr erwerbsfähigen Älteren. Nach 2025, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gegangen sind, werden die ökonomischen Konsequenzen des demografischen Wandels mehr von dem wachsenden Anteil der über 70-Jährigen dominiert werden. 

Welche Möglichkeiten zum Gegensteuern bieten sich? Wenn es schon bald mehr ältere und weniger jüngere Erwerbsfähige gibt, kann man auf die älteren Erwerbstätigen nicht ohne Einbußen für alle verzichten. Heute arbeiten in Deutschland fast 90 Prozent der Männer im Alter von 30 bis 50 Jahren und 70 Prozent der Frauen dieses Alters. Bis zum Alter von 60 Jahren fällt dieser Anteil bei Männern jedoch auf 30 und bei Frauen auf 15 Prozent. Das führt dazu, dass ein 45-Jähriger durchschnittlich 30 Stunden, aber ein 60-Jähriger nur acht Stunden arbeitet. 

Abb. 2: Durchschnittsarbeitszeit in Deutschland: Die Gesamtarbeitsleistung bliebe bis 2025 konstant, wenn die Arbeitszeit der 50- bis 64-Jährigen steigen würde; Quelle: StBA (eigene Berechnungen).

Ein Modell (Abbildung 2): Würde bis 2025 erreicht, dass die 50- bis 60-Jährigen so viele Stunden arbeiten wie die 35- bis 49-Jährigen und sich die Arbeitszeit der 60- bis 64-Jährigen auf 20 Stunden erhöht, bliebe der wirtschaftliche Arbeitseinsatz auch bei einer alternden Erwerbsbevölkerung konstant (Wochenarbeitsstunden: 16,5). Das Beispiel ließe sich noch radikaler gestalten: Würde bis zum Alter von 65 Jahren auf gleichbleibend hohem Zeitniveau gearbeitet und Menschen bis zum Alter von 70 Jahren zu einem gewissen Teil in das Erwerbsleben eingebunden, so ließe sich sogar Entlastung für andere Altersgruppen schaffen: Man denke an junge Erwerbstätige zwischen 20 und 40 Jahren, deren starke Arbeitsbelastung häufig mit der für eine Familiengründung notwendigen Zeit kollidiert. 

Die Modellrechnungen verdeutlichen, dass die Verteilung der Arbeit über die Altersgruppen neu überdacht werden muss und dass Änderungen notwendig sind, wenn das Altern der Bevölkerung nicht schon bald die wirtschaftliche Entwicklung drosseln soll. Arbeitszeit ist je nach Erwerbstätigkeit nicht gleich gestaltet; Erwerbsbiografien sind unterschiedlich, und niedrige Erwerbsquoten sind häufig eine Folge geringer oder veralteter Qualifikationen. Beim Rostocker Index geht es nicht um Produktivität, sondern um geleistete Erwerbsarbeit. Flexible Beschäftigungsmodelle wie in den Niederlanden zeigen, dass es Ansätze für eine neue Verteilung von Arbeit gibt. Wir müssen uns auf die alternde Gesellschaft von morgen vorbereiten – dazu gehören mutige Anreize und Möglichkeiten für ältere Erwerbstätige.

Literatur

  • Vaupel J.W., E. Loichinger und P. Hetze: Der Demografische Wandel wird uns schon bald etwas kosten.

Aus Ausgabe 2006/1

Artikel

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