ISSN 1613-8856

20 Jahre Demografische Forschung Aus Erster Hand

Infoletter feierte Jubiläum

Seit 2004 stellt der Infoletter „Demografische Forschung Aus Erster Hand“ vier Mal im Jahr seinen rund 4.000 Abonnent*innen neue Studienergebnisse aus der Demografie allgemeinverständlich vor. Das deutsch-österreichische Kooperationsprojekt feierte Mitte November seinen 20. Geburtstag am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock. Zu Gast und Teilnehmende an der Podiumsdiskussion waren unter anderem der Direktor der Max-Planck-Gesellschaft Patrick Cramer und die Wissenschaftsministerin des Landes Mecklenburg-Vorpommern Bettina Martin.

Emilio Zagheni, Roland Rau, Michaela Kreyenfeld, Bettina Martin, Patrick Cramer, Isabella Buber-Ennser, Katharina Spieß, Antje Draheim und Mikko Myrskylä (von links nach rechts).

Im Mittelpunkt der Veranstaltung standen die demografischen Herausforderungen, denen sich Deutschland und Mecklenburg-Vorpommern in den kommenden Jahren stellen müssen, wie die Alterung und Gesundheit der Gesellschaft, Fachkräftemangel und Migration, ebenso wie mögliche Politikoptionen und Lösungsansätze zu diesen Herausforderungen.

Mikko Myrskylä, Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDR), begrüßte die anwesenden Gäste, darunter besonders die Podiumsteilnehmenden, den Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) Patrick Cramer, die Ministerin für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Mecklenburg- Vorpommern, Bettina Martin sowie Antje Draheim, Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium und Katharina Spieß, Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung. Zudem freute er sich alle Vortragenden, die Gäste aus der Rostocker Wissenschaft und Wirtschaft sowie rund 100 Zuhörer*innen im Livestream begrüßen zu können. „Der Infoletter hat sich in den vergangenen 20 Jahren zu einer wahren Erfolgsgeschichte entwickelt“, sagte Mikko Myrskylä und übergab an Michaela Kreyenfeld, Professorin an der Hertie School in Berlin. Sie begann ihren Impulsvortag mit einem Rückblick ins Jahr 2004, dem Jahr in dem auch ihre Tochter geboren wurde und sie am MPIDR arbeitete. Damals habe der Initiator des Infoletters und damalige Institutsdirektor Jim Vaupel überzeugt gesagt, es brauche demografische Informationen „from the horses mouth“, also aus verlässlicher Quelle. Themen sollten innerhalb der Kerngebiete der Demografie liegen: Fertilität, Mortalität und Migration.

Michaela Kreyenfeld blickte in ihrem Impulsvortrag auf 20 Jahre Infoletter zurück.

„Erst durch einen Beitrag im Infoletter wurde in Deutschland die Erhebung von Daten zur Geburtenfolge angestoßen“, erklärte Kreyenfeld. So gab es bis Mitte der Nullerjahre in der Bevölkerungsstatistik keine Angaben zur Geburtenfolge – also Angaben darüber in welchem Altersabstand eine Frau ihre Kinder bekommen hat. So erschien in der ersten Ausgabe des Infoletters im dritten Quartal 2004 ein Beitrag der den Frust der Demograf*innen über fehlende Daten zu Geburtenzahlen in Deutschland behandelte. Ein Beitrag auf Zeit Online, der die Informationen aus dem Infoletter zur Grundlage nahm, machte das Thema zum politischen Diskurs und Wolfgang Bosbach brachte 2006 einen Gesetzesentwurf in den Bundestag ein, der zu einer Gesetzesänderung führte. Seit diesem Zeitpunkt wird die Geburtenfolge in der Bevölkerungsstatistik erfasst. „So kam es dank des Infoletters zu einer Gesetzesänderung. Ein tolles Beispiel zur Vermittlung zwischen Wissenschaft und Politik“, sagte Michaela Kreyenfeld.

Nach dem Impulsvortag startete die Podiumsdiskussion zur Frage: „Fehlen uns Menschen in Europa?“. Moderator Andreas Edel, Geschäftsführer des Forschungsnetzwerks Population Europe, stellte eingangs fest, dass die Demografie schon immer eine politische Disziplin gewesen sei. Ihre Ergebnisse seien für Planungshandeln in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft relevant. „Ist es demnach an der Zeit, dass sich Wissenschaft stärker in der Politik einbringt?“, fragte Andreas Edel an Ministerin Bettina Martin gerichtet.

Die Teilnehmer*innen der Podiumsdiskussion zur 20-Jahr-Feier des Infoletters (von links nach rechts): Andreas Edel, Mikko Myrskylä, Bettina Martin, Patrick Cramer, Antje Draheim, Katharina Spieß.

Die Ministerin erinnerte sich an die Corona-Zeit, als die Regierung in Schwerin immer wissenschaftliches Know-How am Kabinettstisch hatte. „Wir stellten aber bald fest, dass wir die Forschenden mit unserer Erwartung, Antworten zu liefern nicht überfordern dürfen. In der Politik geht es um einen Abwägungsprozess, in der die wissenschaftliche Stimme eine von mehreren ist. Die Entscheidungen müssen aber Politiker*innen treffen.“

MPG-Präsident Patrick Cramer antwortete darauf, dass die Max-Planck-Gesellschaft eine Einrichtung zur Grundlagenforschung sei. „Wir machen Tiefenbohrungen in der Forschung und nicht alle unsere Wissenschaftler*innen können oder wollen kommunizieren. Allerdings sollten alle in Führungspositionen die Chancen und Risiken der Wissenschaftskommunikation für sich selbst abwägen.“ Mit der leitenden Stellung gehe eine Verantwortung des öffentlichen Kommunizierens einher, da der politische Prozess mit Evidenz und Fakten aus der Wissenschaft bereichert wird.

„Bevölkerungsrückgang, Fachkräftemangel und Bevölkerungsalterung: in Zukunft werden noch mehr Menschen in Europa fehlen,“ konstatierte Moderator Andreas Edel. Wir stehen im Wettbewerb um Zuwanderer*innen nach Europa, was macht Deutschland?“ fragte Edel Antje Draheim, Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium.

„Ich bringe gerne das Beispiel des Anwerbeverfahrens von Pflegekräften aus dem Ausland. Hier müssen wir Regeln des fairen Anwerbens befolgen. Wir wollen die Fachkräfte nicht aus Ländern anwerben, in denen sie vor Ort sehr gebraucht werden.“, erklärte Draheim.

Katharina Spieß, Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden will Familien stärken.

Katharina Spieß, Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden, ergänzte: „Wir müssen den Sockel der Bevölkerungspyramide konstant halten. Dafür müssen wir die frühe Bildung und Betreuung fördern und so Familien stärken. Es braucht gute Kitas und Grundschulen. Zudem müssten die Chancen von Kindern aus benachteiligten Familien und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert werden. Dafür brauche es Ganztagsschulen und auch lebenslanges Lernen. „Wir müssen Humanvermögen in allen Teilen der Gesellschaft ausbilden“, schloss Spieß.


Alterung der Gesellschaft, Fachkräftemangel, Migration – Diskussion im Max-Planck-Institut

Beitrag über die Veranstaltung auf MV1 Privater Fernsehsender aus und für Mecklenburg-Vorpommern.
Bitte klicken Sie auf das Bild, um sich das Video auf Youtube anzusehen.

„Obwohl reiche europäische Länder viel machen, um Geburtenraten zu erhöhen, steigen sie seit Jahren nicht. In Finnland wird aktuell viel geredet und wenig gemacht“, entgegnete MPIDR Direktor Myrskylä. Lange sei es so gewesen, dass weniger wohlhabende Familien viele Kinder bekommen hätten, in den nordischen Ländern habe sich das in der jüngeren Vergangenheit umgekehrt: eine Familie mit vielen Kindern ist ein Privileg der Wohlhabenden geworden.

Zum Abschluss der Podiumsdiskussion lenkte Moderator Andreas Edel den Fokus auf die Migration von Forschenden: „Spitzenforschung braucht Kräfte aus dem Ausland. Innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft kommen 40 Prozent der Direktoren aus dem Ausland, 60 Prozent der Promovierenden und 80 Prozent der Postdocs.“

„Vielfalt erhöht die Originalität“, ist sich der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft Patrick Cramer sicher.

MPG-Präsident Cramer war sich sicher, dass Abschottung der falsche Weg ist. „Wissenschaftler*innen müssen ihre Stimme erheben, wenn es um Fehler wie internationale Abschottung geht. Die MPG ist stark davon abhängig Talente überall auf der Welt zu finden. Denn Vielfalt erhöht die Originalität. Wir sind offen für Menschen aller Orientierungen, Geschlechter und Religionen.“

Auf die Podiumsdiskussion folgten vier wissenschaftliche Vorträge. Roland Rau, Professor für Demographie an der Universität Rostock, stieg ein mit seinem Talk über das Labor Force Replacement Ratio (LFRR), einem einfachen Maß zur Schätzung des Arbeitskräftemangels. Mit dem LFRR kann man Fragen danach beantworten, wie viele Leute den Arbeitsmarkt verlassen und wie viele Menschen eintreten. So wird die Anzahl der Menschen im Alter von 18 bis 22 Jahren ins Verhältnis zur Anzahl der Menschen im Alter von 61 bis 65 gesetzt.

In seinem Vortrag stellte Roland Rau, Professor für Demographie an der Universität Rostock seine Berechnungen für Arbeitnehmer*innenzahlen in Deutschland vor.

Rau stellte seine Berechnungen für die Jahre 2000 bis 2050 auf Ebene der Bundesländer und Kreise vor. Es zeigt sich, dass seit 2015 jedes Jahr rund zehn Prozent weniger Menschen auf den Arbeitsmarkt kamen, als ihn verließen, diese Zahl stieg bis 2023 auf 25 Prozent. Die Talsohle sei bislang noch nicht erreicht. Bis 2050 gibt es nach Raus Berechnungen kaum ein Szenario, das auf ein ausgeglichenes LFRR hoffen lassen könnte. Dabei ist der Zuzug von 300.000 Menschen pro Jahr schon eingerechnet. „Deshalb bleibt nur die Adaption an eine niedrige Geburtenrate. Die Digitalisierung hilft uns dabei, Fachkräfte einzusparen. Doch was machen wir in Berufen, die persönliche Nähe erfordern? Wie wollen wir in Zukunft Versorgung und Qualität im ländlichen Raum sicherstellen?“, fragt Rau abschließend.

Isabella Buber-Ennser, Forschungsgruppenleiterin am Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, hob Infoletter-Beiträge über niedrige Fertilität hervor.

Auf die vergangenen 20 Jahre Infoletter-Beiträge blickte Isabella Buber-Ennser, Forschungsgruppenleiterin am Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, zurück. Sie hob besonders Beiträge hervor, die sich mit Bestimmungsfaktoren niedriger Fertilität beschäftigten. So gab es in der allerersten Ausgabe einen Beitrag mit dem Titel „Ostdeutsche Mütter sind seltener verheiratet und jünger“. Im selben Jahr erschien ein Beitrag, der feststellte, dass die im Durchschnitt als ideal angesehene Zahl eigener Kinder unter zwei sinkt.

Katharina Spieß stellte in ihrem Vortag die Frage, ob es uns in Deutschland an Erwerbspersonen fehle und was das mit früher Bildung und Betreuung zu tun habe. Sie zeigte, dass der Gender Gap bei den Teilzeitbeschäftigten in Deutschland besonders hoch ist. Ein besonderes Potenzial die Erwerbstätigkeit zu steigern, sah sie nicht nur bei Frauen allgemein, sondern vor allem auch bei Müttern mit Migrationshintergrund. Um diese Frauen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, wäre eine bessere Bereitstellung von Betreuungsplätzen nötig. Eine aktuelle Umfrage des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung unter Müttern mit Migrationshintergrund habe ergeben, dass sich unter ihnen viele einen Kitaplatz für ihre Kinder wünschten, aber keinen erhalten hätten. Würde man dieses Potential voll ausschöpfen, so würde die Erwerbstätigenquote um elf Prozent steigen.

MPIDR-Direktor Mikko Myrskylä schloss die Jubiläumsfeier mit seinem Vortrag.

Im letzten Vortrag des Nachmittags stellte Mikko Myrskylä seine Lösungsidee vor, mit einer dauerhaft niedrigen Geburtenrate umzugehen. „Wir müssen mehr Geld in die Bildung kleinerer Geburtenjahrgänge investieren und so das Humanvermögen erhöhen“, erklärte er. Der Lösungsvorschlag koste nichts extra, niemand müsse extra Kinder kriegen und das Renteneintrittsalter müsse nicht angehoben werden.

In einem Mikrosimulationsmodell für 5,5 Millionen Finnen untersuchte Myrskylä mit seinen Co-Autor*innen die langfristen wirtschaftlichen Auswirkungen davon, Investitionen in Bildung trotz sinkender Geburtenrate konstant zu halten. Dies führt zu einer höheren pro Kopf Investition in Bildung, die Qualität von Grundschulen, Kitas, Sekundarstufen und Universität steigt. Bessere Bildung erhöht Einkommen und führt zu späterem Ruhestand. „Wir waren überrascht, dass diese Investitionsstrategie so erfolgreich ist. Durch ein höheres Bildungsniveau haben wir die Aussicht auf eine bessere demografische Zukunft“, schließt Mikko Myrskylä seinen Vortrag und die Jubiläumsfeier.

Eine Auswahl von Bildern der Feierlichkeiten können Sie hier ansehen.

Das vollständige Programm der Veranstaltung finden Sie hier.

Fotograf: Danny Gohlke