„Es ist mein erster Ruhestand. Ich übe noch!“, sagt Vicco von Bülow alias Heinrich Lohse in einer viel zitierten Szene des Films „Pappa Ante Portas“. Und tatsächlich scheint es, als wenn er damit vielen Menschen seiner Generation aus der Seele gesprochen hat. Denn die Potenziale der Ruheständler, so hat Andreas Mergenthaler vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) herausgefunden, nehmen zu, sind aber in den vergangenen Jahren erst nach und nach entdeckt und genutzt worden. Vor dem Hintergrund des demografi schen Wandels geht der Sozial- und Bevölkerungswissenschaftler der Frage nach, welche gesellschaftlichen Leistungen die heute 55- bis 70-Jährigen erbringen, wo es noch weitere Potenziale gibt und wo die Grenzen des „produktiven Alterns“ liegen. Dafür konnte Mergenthaler auf zwei Datensätze zurückgreifen: auf den Deutschen Alterssurvey (DEAS) von 2002 und die Studie „Übergänge und Alterspotenziale“ (TOP) aus dem Jahr 2013. Während DEAS unter anderem die Jahrgänge von 1932 bis 1947, also die Kriegsgeneration und die frühen 68er, abdeckt, wurden für TOP die Jahrgänge von 1943 bis 1958, also die 68er und frühen Babyboomer, befragt. Im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis, die Wohnregion in Ost- oder Westdeutschland sowie den Partnerschaftsstatus und das durchschnittliche Einkommen weisen beide Stichproben hohe Ähnlichkeit auf. Unterschiede gibt es lediglich in der Zusammensetzung der Altersgruppen: Im Deutschen Alterssurvey sind die 55- bis 59-Jährigen schwächer, die 60- bis 64-Jährigen stärker vertreten.
Um nun herauszufi nden, inwieweit sich die Gestaltung des Ruhestandes in den vergangenen Jahren geändert hat, stellt Mergenthaler beide Jahrgangsgruppen gegenüber. Er untersucht zum einen das Potenzial der Befragten, also ihre Angaben zum Gesundheitszustand, zum Bildungsgrad sowie zum Einkommensniveau. Zum anderen erfasst er die gesellschaftlichen Leistungen dieser Altersgruppe, also nicht nur die Erwerbstätigkeit, sondern auch ehrenamtliche Tätigkeiten in der Zivilgesellschaft oder Hilfe bei Kinderbetreuung und Pflege in der Familie.
Erwerbstätigkeit bei den 55- bis 70-Jährigen nach Geschlecht und Alter
Abb.1: Bei den über 60-Jährigen hat sich der Anteil der Erwerbstätigen von 2002 bis 2013 teilweise mehr als verdoppelt. Quelle: DEAS 2002 (n=1.111), TOP 2013 (n=4.957), eigene Berechnungen
Obwohl zwischen den Zeitpunkten der Befragungen nur 11 Jahre liegen, sind die Unterschiede erheblich: So hat sich etwa die Erwerbsquote bei den ab 60-Jährigen zwischen 2002 und 2013 zum Teil mehr als verdoppelt (vgl. Abb. 1). Auch bei den ehrenamtlichen Tätigkeiten sowie in der Familie zeigen die TOP-Befragten ein deutlich gesteigertes Engagement. So gab etwa fast jeder dritte Mann zwischen 55 und 59 Jahren an, in den letzten drei Monaten Kinder betreut zu haben. 2002 bejahten diese Frage nur 14 Prozent der Männer in dieser Altersgruppe. Bei den Frauen ist die Entwicklung ähnlich. Zudem berichtete 2013 jeder vierte Mann zwischen 55 und 59 Jahren, einen kranken oder behinderten Menschen zu betreuen. 2002 waren es in dieser Altersgruppe nur 7% der Männer. Mit 35% (TOP) zu 14% (DEAS) fällt der Unterschied bei den Frauen ähnlich hoch aus und bleibt auch über alle Altersgruppen hinweg relativ konstant. Diese Unterschiede sind auch auf die größeren Potenziale der 2013 Befragten zurückzuführen. So ist der Anteil der Menschen mit hoher Bildung zumindest bei den über 60-Jährigen größer als 2002. Auch ihren Gesundheitszustand stufen die 55- bis 70-Jährigen heute im Schnitt besser ein als 2002. Darüber hinaus spielt das gewandelte Altersbild eine Rolle, das Aktivitäten und Tätigkeiten im Ruhestand viel stärker betont als früher.
Abb. 2: Das Cluster der „Weiterbeschäftigungswilligen“ (n=690) zeichnet sich durch eine hohe Erwerbsquote und eine hohe Neigung aus, im Ruhestand weiter zu arbeiten. Quelle: TOP 2013, eigene Berechnungen.
Doch diesem Bild vom aktiven Altern entsprechen längst nicht alle Befragten. Deshalb hat Andreas Mergenthaler nicht nur verschiedene Jahrgänge verglichen, sondern, in einem zweiten Teil der Arbeit, auch Unterschiede zwischen den Befragten der TOP-Studie von 2013 untersucht. In einer Analyse, die Menschen mit gleichen Merkmalen zu so genannten Clustern zusammenfasst, konnte der Sozialwissenschaftler sechs verschiedene Ruhestands-Typen ausmachen. Der aktivste Typ ist dabei der „Weiterbeschäftigungswillige“, der passivste der „Ambitionslose“ (vgl. Abb. 2 und 3). Das wichtigste Merkmal der Weiterbeschäftigungswilligen (vgl. Abb. 2) ist das Ausmaß ihrer Erwerbstätigkeit: Mit 41 Wochenarbeitsstunden ist sie in dieser Gruppe am höchsten. Das bürgerschaftliche Engagement ist durchschnittlich und das familiale leicht unterdurchschnittlich. Obwohl in dieser im Schnitt relativ jungen Gruppe schon ein erstaunlich hohes Tätigkeitsniveau erreicht ist, will ein sehr hoher Anteil im Ruhestand einer Erwerbstätigkeit nachgehen und sich ehrenamtlich engagieren. Es verwundert nicht, dass die personellen Ressourcen in dieser Gruppe besonders hoch sind: Verglichen mit den anderen Typen weisen die Weiterbeschäftigungswilligen das höchste Bildungsniveau auf, verfügen über das höchste Einkommen und haben das größte berufliche Prestige. Frauen sind mit 33% unterrepräsentiert. Das Gegenteil zu diesem Typus sind die „Ambitionslosen“ (vgl. Abb. 3). Mit 26% stellen sie die größte Gruppe, während alle anderen Gruppen einen Anteil von 14 bis 17 Prozent haben. Vertreter dieses Typus haben eine geringe Neigung zu Erwerbstätigkeit und bürgerschaftlichem Engagement. Das familiale Engagement ist dagegen überdurchschnittlich ausgeprägt. Die 65- bis 70-Jährigen sind in dieser Gruppe überrepräsentiert. Zudem sind Bildungsniveau, Einkommen und das berufliche Prestige bei den „Ambitionslosen“ am niedrigsten. Darüber hinaus konnte Andreas Mergenthaler vier weitere Gruppen ausmachen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich sehr stark der Familie widmen („Familial Engagierte“), ein hohes bürgerschaftliches Engagement zeigen („Bürgerschaftlich Engagierte“) oder einem Vollzeitjob („Erwerbstätige“) nachgehen. Die „Engagementwilligen“ haben zwar ein eher geringes Tätigkeitniveau bei Beruf und Familie, weisen aber eine hohe Neigung auf, zukünftig einer Erwerbstätigkeit oder einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachzugehen. Zusammenfassend lässt sich für die Gruppen feststellen: Je älter eine Person ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie einer der Gruppen mit hohem Tätigkeitsniveau angehört.
Abb. 3: In das Cluster der „Ambitionslosen“ (n=1206) fallen zumeist Menschen, die ein eher geringes berufl iches Prestige und ein geringes Einkommen haben. Quelle: TOP 2013, eigene Berechnungen.
Eine gute subjektive Gesundheit und ein hohes berufl iches Prestige, d.h. ein hoher Sozialstatus, steigern dagegen die Wahrscheinlichkeit hierfür. Auch wenn die Potenziale älterer Menschen in den vergangenen Jahren zugenommen haben, sollte also nicht in Vergessenheit geraten, dass diese Ressourcen ungleich verteilt sind. Ein Altersbild, das die Produktivität und Potenziale der 55- bis 70-Jährigen betont, stößt daher bei benachteiligten Bevölkerungsgruppen an seine Grenzen. Vielmehr sollte es eine „Vielfalt des Alterns“ geben, meint Andreas Mergenthaler, so dass unterschiedliche Gestaltungen des Ruhestandes akzeptiert, gleichzeitig aber auch Anreize für Engagement in verschiedenen Bereichen gesetzt werden. Dazu gehört auch, dass der Arbeitsbegriff in einer alternden Gesellschaft einer Neuverortung unterzogen werden müsse. Neben der Erwerbsarbeit müssten auch klassische sowie neuere Formen des zivilgesellschaftlichen und familialen Engagements eingeschlossen werden.