ISSN 1613-8856

Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB)

Gezügelte Ungleichheit

2021 | Jahrgang 18 | 2. Quartal

Keywords: Lohnungleichheit, Berufsfelder, Geschlechterverhältnis, Beschäftigungsentwicklung, Einkommensverteilung

Mitautor der wissenschaftlichen Studie: Nils Witte

Mehr Lehrerinnen, mehr Pfleger und Pflegerinnen, mehr Verwaltungsberufe: Ohne die positive Lohn-und Beschäftigtenentwicklung in Berufen, die überwiegend von Frauen ausgeübt werden oder die eine bestimmte Ausbildung voraussetzen, wäre die Lohnungleichheit in Deutschland zwischen 1992 und 2012 noch deutlich stärker angewachsen. Um 25 Prozent größer wäre dann der Unterschied zwischen dem unteren (10. Perzentil) und oberen Lohnniveau (90. Perzentil), schreibt Nils Witte vom Wiesbadener Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. 

Witte greift für seine Studie auf Daten aus zwei Beschäftigungssurveys zurück (BIBB/IAB und BIBB/BAuA), für die Menschen, die mindestens zehn Stunden pro Woche arbeiten, alle sechs Jahre detailliert zu ihrer beruflichen Tätigkeit befragt wurden. In die vorliegende Studie flossen Daten all jener Teilnehmenden ein, die zum Zeitpunkt der Studie zwischen 16 und 65 Jahre alt waren, als Beamte oder Angestellte arbeiteten und in Westdeutschland lebten. 

Um überhaupt Aussagen über die Lohnverteilung und die Schere zwischen hohen und niedrigen Löhnen treffen zu können, ist es in der Statistik üblich, solche Daten in sogenannte Perzentile einzuteilen (s. Abb. 1). Das ist in etwa so, als würde man 100 Menschen in eine Reihe stellen, die repräsentativ für die Lohnverteilung in Deutschland sind. Der erste würde am wenigsten, der 100. am meisten verdienen. Fragt man nun den 50. in der Reihe, wie viel er verdient, erhält man den sogenannten Median: Es gibt genauso viele Menschen, die weniger verdienen, wie Menschen, die mehr verdienen als dieser. 

Entwicklung des Stundenlohns von 1992 bis 2012

Entwicklung des Stundenlohns von 1992 bis 2012

Abb. 1: Wachsende Ungleichheit: Während die Löhne im unteren Lohnsegment kaum gestiegen sind, wuchsen sie im oberen Drittel um gut 17 Prozent. Quelle: BIBB/IAB 1992 und BIBB/BAuA 2012 Erwerbstätigenbefragung

Den Daten der Surveys zufolge lag das mittlere Lohnsegment, also der Median, 1992 in Deutschland bei einem Stundenverdienst von 13,50 Euro (Brutto). Das heißt, die eine Hälfte der Beamten und Angestellten verdiente mehr, die andere Hälfte weniger. 20 Jahre später war dieser Median um fast 13 Prozent auf gut 15 Euro gestiegen. Der 90. Mensch in der Reihe aber konnte im gleichen Zeitraum seinen Lohn um 18 Prozent auf knapp 26 Euro steigern, der 10. Mensch in der Reihe dagegen legte beim Verdienst lediglich um gut fünf Prozent zu und verdiente 2012 acht Euro pro Stunde. Die Ungleichheit der Löhne hat demnach deutlich zugenommen: Verdiente der 90. Mensch 1992 nur 2,8 mal so viel wie der 10., so waren es 2012 bereits 3,25 mal so viel. 

Nils Witte hat sich nun in seiner Studie zwei wichtige berufliche Eigenschaften genauer angeschaut und gefragt: Wie entwickelt sich die Ungleichheit in so genannten geschlossenen Berufen, für die nur Menschen mit einer ganz bestimmten Ausbildung eingestellt werden, und wie in Berufen, die überwiegend von Männern oder überwiegend von Frauen ausgeübt werden? 

Bei diesen beiden beruflichen Charakteristika kam es zuletzt zu deutlichen Veränderungen: Zum einen nahm die Zahl der Beschäftigten in geschlossenen Berufen vor allem im unteren Lohnsegment zu. Unter anderem der Boom in einigen Dienstleistungsbranchen, in der Bildung und im Gesundheitswesen hat zu dieser Entwicklung beigetragen. Zum anderen veränderte sich in verschiedenen Berufsfeldern aber auch das Geschlechterverhältnis deutlich: Unterrichteten in den Gymnasien in den 1990er Jahren noch überwiegend Männer, so war das Geschlechterverhältnis 2012 dort nahezu ausgeglichen. 

Vergleicht man die Lohnentwicklung in offenen, teilweise geschlossenen und geschlossenen Berufen, zeigt sich eine sehr deutliche Entwicklung (s. Abb. 2): Während der Lohn bei geschlossenen Berufen um 37 Prozent stieg, waren es bei den teilweise geschlossenen lediglich gut sechs Prozent und bei den offenen Berufen ging der Lohn gar um gut fünf Prozent zurück. Schaut man nun auf die Entwicklungen im unteren (10. Perzentil), mittleren (50. Perzentil) und oberen (90. Perzentil) Lohnsegment, so zeigt sich darüber hinaus bei allen drei Berufstypen, dass die Lohnzuwächse im unteren Lohnsegment am geringsten bzw. die Lohnrückgänge am stärksten sind. Die Ungleichheit innerhalb der geschlossenen Berufe nimmt also zu. Und doch hat die Entwicklung in diesen Berufen die Lohnungleichheit in Deutschland insgesamt verringert. Der Grund dafür ist, dass die Zahl der Beschäftigten in den relativ gut bezahlten, geschlossenen Berufen gerade im unteren Lohnsegment deutlich zugenommen hat. Vereinfacht ausgedrückt: Im Jahr 2012 gab es weniger schlecht bezahlte Reinigungskräfte und dafür mehr besser bezahlte Altenpfleger und Altenpflegerinnen. 

Lohnentwicklung (in%) nach Beschäftigungsart

Lohnentwicklung (in%) nach Beschäftigungsart

Abb. 2: In Berufen, die keine besondere Ausbildung erfordern, war die Lohnentwicklung negativ, in geschlossenen Berufen stieg sie dagegen stark an. Quelle: BIBB/IAB 1992 und BIBB/BAuA 2012 Erwerbstätigenbefragung

Bei den überwiegend von Frauen ausgeübten Berufen zeigt sich eine vergleichbare Entwicklung. Auch hier stieg der Lohn im Vergleich zu Berufen, in denen Männer überwiegen oder in denen es ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis gibt, mit fast 35 Prozent außergewöhnlich stark (s. Abb. 3) – vor allem im mittleren Lohnsegment. Zwar profitiert bei den von Frauen dominierten Berufen das untere Lohnsegment ebenfalls mit gut 18 Prozent Lohnzuwachs am wenigsten. Aber weil sich der Lohnabstand zu gemischten und von Männern dominierten Berufen verringert hat, haben von Frauen dominierte Berufe ebenfalls zu etwas mehr Lohngleichheit beigetragen – und wirkten damit dem allgemeinen Trend steigender Lohnungleichheit entgegen. 

Lohnentwicklung (in %) nach Geschlechterverhältnis

Lohnentwicklung (in %) nach Geschlechterverhältnis

Abb. 3: Berufe, die hauptsächlich von Frauen ausgeübt werden, konnten zwischen 1992 und 2012 deutliche Lohnzuwächse verzeichnen. Quelle: BIBB/IAB 1992 und BIBB/BAuA 2012 Erwerbstätigenbefragung

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Nils Witte gemeinsam mit dem Soziologen Andreas Haupt vom Karlsruher Institut für Technologie in einer zweiten Studie, in der es um die Lohn-Ungleichheit zwischen den Geschlechtern geht. Deutschland hat EU-weit eine der höchsten Lohnlücken zwischen Männern und Frauen, die beharrlich bei 22 bis 24 Prozent liegt. Witte und Haupt gehen in ihrer Studie der Frage nach, inwieweit Männer und inwieweit Frauen von sogenannter beruflicher Lizenzierung profitieren. In solchen Berufen, die eine staatliche Erlaubnis zur Berufsausübung erfordern (z.B. Steuerberater, Ärztinnen oder auch Lehrerinnen und Pflegekräfte) ist das Lohnniveau ähnlich wie in geschlossenen Berufen vergleichsweise hoch. Obwohl die Löhne von Männern zwischen 1993 und 2015 auch bei den lizensierten Berufen stärker gestiegen sind als die der Frauen, sind die Geschlechterunterschiede doch deutlich geringer als in jenen Berufen, die auch ohne Zulassung ausgeübt werden dürfen. Wären alle anderen Entwicklungen gleichgeblieben, hätte allein der Beschäftigungszuwachs von Frauen in den lizensierten Berufen die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen um acht Prozent gesenkt, schreiben Haupt und Witte. 

Unterm Strich lässt sich auf Basis beider Studien sagen, dass die Lohnungleichheit sowohl zwischen Männern und Frauen, als auch zwischen gering und gut verdienenden abhängig Beschäftigten innerhalb unterschiedlicher Berufsgruppen deutlich zunimmt. Gebremst wird diese zunehmende Lohnschere allerdings durch Verschiebungen zwischen den Berufsgruppen: der Beschäftigungszuwachs in geschlossenen und lizensierten Berufen, in denen besonders im unteren Lohnsegment vergleichsweise höhere Gehälter gezahlt werden, hat das Wachstum der Lohnungleichheit zwischen den 1990er und 2010er Jahren gebremst und die Lohnkluft zwischen Männern und Frauen verringert, weil insbesondere Frauen von dem Beschäftigungszuwachs profitieren konnten.

Literatur

  • Witte, N.: Have changes in gender segregation and occupational closure contributed to increasing wage inequality in Germany, 1992– 2012? European Sociological Review 36(2020)2, 236-449.
    DOI: 10.1093/esr/jcz055
  • Witte, N. and A. Haupt: Is occupational licensing more beneficial for women than for men? The case of Germany, 1993/2015. European Sociological Review 36(2020)3, 429-441.
    DOI: 10.1093/esr/jcz060

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Aus Ausgabe 2021/2

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