Die positive Entwicklung der allgemeinen Lebenserwartung ist unter anderem auf den Rückgang der vorzeitigen Sterblichkeit zurückzuführen. Und ein Teil der vorzeitigen Todesfälle gilt für bestimmte Diagnosen und Altersgruppen als vermeidbar. Diese vermeidbare vorzeitige Sterblichkeit zu untersuchen, ist eher kompliziert. Denn bei der Sterblichkeit spielen nicht nur Erkrankungen und gesunde beziehungsweise ungesunde Lebensweisen eine Rolle, sondern viele Faktoren, wie zum Beispiel kulturelle Unterschiede. Besonders spannend aus demografischer Perspektive sind deswegen die deutschsprachigen Bevölkerungen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Südtirol. Sie sind so etwas wie ein großes natürliches Experiment. Denn diese Bevölkerungen sprechen die gleiche Sprache und sind kulturell, historisch und ökonomisch eng miteinander verbunden. Zudem haben die Staaten, in denen sie leben, vergleichbare föderale Systeme. Die deutschen und österreichischen Bundesländer, die schweizerischen Kantone und die italienische Provinz Südtirol haben alle eine gewisse Autonomie. Gleichzeitig sind die Gesundheitssysteme der einzelnen Länder sehr unterschiedlich. Dieses große natürliche Experiment hat nun Michael Mühlichen vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung gemeinsam mit Kollegen genutzt, um die vorzeitige Sterblichkeit zu untersuchen. Für ihre Studie, die sie in der Fachzeitschrift „Social Science & Medicine“ publiziert haben, haben sie sich angeschaut, wie sich die Sterblichkeit seit den 1990er-Jahren in den einzelnen Regionen verändert hat. Außerdem haben sie die vorzeitige Sterblichkeit noch in zwei Kategorien unterteilt, nämlich in die Todesfälle unter 75 Jahren, die medizinisch vermeidbar sind, und diejenigen, die präventiv, also mit einem anderen Lebensstil, vermeidbar gewesen wären.
Vermeidbare Sterblichkeit im deutschen Sprachraum
Abb. 1: Medizinisch und präventiv vermeidbare Sterblichkeit im deutschsprachigen Raum in den Jahren 2017–2019; Männer und Frauen zusammen; standardisierte Sterberaten (Sterbefälle pro 100.000 Personen).
Die Wissenschaftler stellten fest, dass es ein starkes Nord-Süd- sowie ein Ost-West-Gefälle bei beiden Geschlechtern und in beiden Kategorien der vorzeitigen Sterblichkeit (siehe Abb. 1) gibt. Auffällig ist, dass die Sterblichkeit in der Schweiz deutlich niedriger ist als in den angrenzenden Regionen in Süddeutschland. Der Unterschied ist immens: Rechnet man die vermeidbaren Todesfälle heraus, verringert sich die räumliche Ungleichheit der Lebenserwartung im Jahr 2017/2019 um 30 Prozent für Männer und 28 Prozent für Frauen. Auf regionaler Ebene haben die Wissenschaftler festgestellt, dass in Deutschland das „traditionelle“ Ost-West-Gefälle in der präventiv vermeidbaren Sterblichkeit nur noch bei Männern erkennbar ist. Auffällig ist in Deutschland außerdem, dass neben den Nord-Süd- und Ost-West-Gefällen auch in Ballungsräumen wie München, Stuttgart und Hamburg, aber auch in Wachstumsregionen wie Potsdam, Dresden, Münster und Bonn die Sterblichkeit deutlich geringer ausfällt, was die Forscher vor allem auf die sozioökonomischen Bedingungen zurückführen. Ähnlich sieht das räumliche Muster in Österreich aus: Die vermeidbare Sterblichkeit ist im Osten höher als im Westen.
Neben der Schweiz hat sich in den letzten Jahrzehnten vor allem Südtirol, eine vorwiegend ländliche und bergige Region, ökonomisch stark entwickelt. Das wirkt sich auch auf die Sterblichkeit aus: Laut den Ergebnissen der Studie gehört Südtirol neben der Zentralschweiz zu den Regionen mit den besten Ergebnissen sowohl bei der medizinisch als auch bei der präventiv vermeidbaren Sterblichkeit. Abgesehen von den günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen weist Südtirol vergleichsweise niedrige Raucherquoten auf. Bemerkenswert ist, dass die Ärztedichte im Vergleich zu Österreich geringer ist.
Eine Schlussfolgerung der Forscher: Die Sicherstellung einer zeitnahen und angemessenen Gesundheitsversorgung und Gesundheitsprävention ist in allen Regionen Deutschlands, insbesondere im Norden, Westen und Osten, aber auch im Osten Österreichs verbesserungswürdig.