Prof. Dr. Wolfgang Lutz ist Demograf und interdisziplinärer System-Wissenschaftler. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der globalen Bevölkerungsentwicklung und der Bedeutung demografischer Prozesse für nachhaltige Entwicklung. Er beschäftigt sich auch mit Analysen der Geburtenentwicklung in Europa, Asien und Afrika und der Erstellung langfristiger Prognosen der Bevölkerung nach Alter, Geschlecht und Bildung. Lutz ist Professor für Demografie an der Universität Wien, war fast vier Jahrzehnte am IIASA (International Institute for Applied Systems Analysis), war Direktor des Vienna Institutes of Demography und ist Gründer und Direktor des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital (IIASA, ÖAW, Universität Wien).
Herr Lutz, die Demografische Forschung Aus Erster Hand wird 20 Jahre alt und Sie waren von Anfang an Mitherausgeber. Wie kam es zu der Idee des Infoletters?
WOLFGANG LUTZ: Das Ganze geht im Wesentlichen auf eine Reihe von Gesprächen zwischen dem Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung, Jim Vaupel, und mir zurück. Wir waren beide sehr frustriert darüber, wie uninformiert und einseitig die Medien über demografische Forschung berichtet haben. Es gab einige Fälle, wo die Medien neue wissenschaftliche Erkenntnisse falsch eingeordnet haben. Außerdem wurde nicht selten übertrieben – mal ging es um Bevölkerungsexplosion, mal um das Schrumpfen der Bevölkerung. Und da hatten wir eben die Idee, dass man das selbst in die Hand nehmen muss. Der Name „Aus Erster Hand“ sollte vermitteln, dass es authentisch ist, direkt von der Wissenschaft kommt. Jim hat das erst nicht verstanden, im Englischen würde man für „Aus Erster Hand“ „Straight from the Horse’s Mouth“ sagen, das hätte nicht so gut geklungen. Das Format des Infoletters ist relativ einfach: Jeder Beitrag basiert auf einem wissenschaftlichen Artikel, dessen Kernaussagen für den Infoletter in einer allgemeinverständlicheren Sprache zusammengefasst werden.
Ganz einfach zu verstehen sind die Beiträge ja nicht immer, zumindest sind sie häufig komplizierter als das, was man klassischen Zeitungsleser*innen zumuten würde. An wen richtet sich die Demografische Forschung Aus Erster Hand genau?
Am Anfang hatten wir tatsächlich die Medien als Zielgruppe im Blick, mittlerweile ist unsere Leserschaft aber viel größer. Es sind viele Menschen aus der Politik, aber auch welche, die in Verbänden und der Wirtschaft arbeiten. Und es gibt auch zahlreiche Wissenschaftler*innen, die die Demografische Forschung Aus Erster Hand lesen.
Sind es Demograf*innen, die die Demografische Forschung Aus Erster Hand lesen?
Ja, auch die Demograf*innen lesen uns. Aber ebenfalls viele Wissenschaftler*innen aus anderen Disziplinen. Mein Institut ist ja Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und wir lassen die Demografische Forschung Aus Erster Hand auch immer an alle Akademie-Mitglieder schicken. Ich werde fast in jeder Sitzung darauf angesprochen. Immer ist jemand, der mir sagt: „Ach, da war letztes Mal so ein interessanter Artikel.“ Und das sind keine Demograf*innen, sondern Philosoph*innen, Physiker*innen und Forschende aus vielen anderen Disziplinen.
Woran liegt das? Ist das sehr typisch für die Demografie oder meinen Sie, dass das Interesse in anderen wissenschaftlichen Fachgebieten ähnlich wäre?
Es ist ein bisschen typisch für die Demografie. Bei der Demografie begegnet man eben ganz häufig Themen, die etwas mit Alltagserfahrung zu tun haben. Jeder hat eine Herkunftsfamilie, viele haben selbst Kinder. Gesundheit und Langlebigkeit sind auch Themen, die jeden betreffen und demnach interessieren. Deswegen sind auch die Zeitungen voll davon. Aber nicht selten sind das eher oberflächliche, persönlich gefärbte Ansichten, wenn darüber gesprochen oder geschrieben wird. So glauben viele Menschen aus ihrer eigenen Erfahrung heraus, Experte dafür zu sein, warum in einem Land mehr oder weniger Kinder auf die Welt kommen. In der Physik oder der Biologie glauben die Menschen nicht, dass sie selber Expert*innen sind. In der Demografie schon. Deswegen muss man vermitteln, dass es eben auch eine seriöse Wissenschaft ist.
Die ersten Ausgaben des Infoletters wurden nur vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung und dem Vienna Institute of Demography herausgegeben. Wie kam es dazu und wann und warum kamen das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung und das Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels dazu?
Wie gesagt kam die Idee für den Infoletter ja aus Gesprächen zwischen Jim Vaupel und mir. Die anderen Institutionen fanden die Idee auch gut und haben sich bei uns gemeldet. Wir fanden es gut, hier die Kräfte zu bündeln, weil die Demografie im deutschsprachigen Raum ja eine höchst problematische Geschichte hat und jetzt am besten gemeinsam wieder aufgebaut werden sollte. Nachdem unter den Nazis die Demografie zur „Rassenhygiene“ mutierte, war sie aus gutem Grund nach dem Krieg weg vom Fenster und an keiner deutschen Universität vertreten. In Frankreich, Skandinavien, England, den USA und Italien hat die Demografie als starke Disziplin überlebt. Dort hatte man sich zwar auch stark mit Eugenik beschäftigt, ist aber doch im Großen und Ganzen auf der Basis der Wissenschaftlichkeit geblieben. Anders als in Deutschland, wo man durch die extreme Rassenlehre total ins wissenschaftliche Abseits geriet. Wenn eine Disziplin einmal ganz aus dem akademischen Spektrum verschwunden ist, dann ist es ganz schwierig, sie wieder aufzubauen. Deswegen war es uns ein Anliegen, auch die anderen für die demografische Forschung wichtigen Institutionen in Deutschland dabeizuhaben und so kamen das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung und das Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels als Mitherausgeber dazu. Der Infoletter hatte also ebenfalls zum Ziel, die Demografie im deutschen Sprachraum auch in den Augen der Öffentlichkeit wieder als seriöse Wissenschaft zu etablieren.
In einer der ersten Ausgaben der Demografischen Forschung Aus Erster Hand gab es einen Beitrag über Ihre Forschung über Tempo-Effekte bei den Fertilitätsraten. Ist das Thema immer noch aktuell?
Es ist aktueller denn je. Damals waren es eher technische Fragestellungen, die uns beschäftigt haben. Gerade sind die niedrigen Geburtenraten aber wieder zunehmend in den Schlagzeilen und auch in der Politik sehr populär, vor allem bei den Rechtspopulisten in Europa. Ungarns Premierminister Viktor Orbán hat letzten Herbst zum Demografie-Gipfel in Budapest geladen, die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni war auch da. Orban hat berichtet, dass es seiner Regierung gelungen sei, die Geburtenrate um 0,4 Kinder pro Frau anzuheben, und Meloni hat angekündigt, diese angeblich so erfolgreiche ungarische Familienpolitik zu kopieren. Dabei war der vermeintliche Anstieg um 0,4 Kinder ein nicht nachhaltiger Tempo-Effekt. Die in einem Kalenderjahr gemessenen Geburtenraten sind zwar kurzfristig angestiegen, aber nur, weil weniger Geburten auf das nächste Jahr verschoben wurden. Rechnet man diese Tempo-Verzerrung heraus, so zeigt sich, dass das sogenannte Quantum der Fertilität (wie viele Kinder Frauen im Laufe ihres Lebens tatsächlich bekommen) sich trotz dieser Politik praktisch nicht verändert hat. So gesehen ist es Viktor Orbán nicht gelungen, die Zahl der Kinder pro Frau nachhaltig zu erhöhen. Die Sachverhalte sind eben häufig komplexer, als es sich auf den ersten Blick darstellt, und das müssen wir erklären. Und wir dürfen die Demografie nicht den Populisten überlassen.
Hat sich das Forschungsfeld denn insgesamt gar nicht verändert in den letzten 20 Jahren?
Doch, hat es. Ich würde sagen, dass es viel mehr Forschung mit mikrosoziologischem Ansatz gibt. Life-Cycle-Analysen, zum Beispiel. Damit werden dann Fragen beantwortet wie: „Wie wahrscheinlich ist es, dass eine Frau nach einer Scheidung noch ein Kind bekommt?“ Auch das sind wichtige Fragestellungen. Was ich dabei aber häufig ein bisschen vermisse, ist der Blick fürs große Ganze.
Welche Rolle wird die Demografische Forschung Aus Erster Hand in Zukunft spielen?
Ich denke, das Thema des demografischen Wandels und damit zusammenhängende Fragen der Migration werden in der Öffentlichkeit in Zukunft noch stärker diskutiert werden, als dies heute schon der Fall ist. Da besteht auch die Gefahr, dass Politiker die Demografie in verkürzter Form zu ihren Zwecken instrumentalisieren. Umso wichtiger ist die richtige und vollständige Darstellung von wissenschaftlichen Ergebnissen, auch wenn das für die Leser*innen manchmal etwas komplexer klingt. Eine weitere wichtige Funktion wird in der interdisziplinären Kommunikation liegen. Auch Wissenschaftler*innen aus zahlreichen anderen Bereichen – insbesondere der Ökonomie und Politikwissenschaft, aber auch aus den Umweltwissenschaften – beschäftigen sich zunehmend mit Fragen des demografischen Wandels. Hier kann der Infoletter relevante demografische Forschungsergebnisse aus erster Hand liefern. Und dies gilt natürlich auch für politische Verantwortungsträger*innen, die von der Regionalpolitik bis hin zur globalen Handels- und Klimapolitik zunehmend mit demografischen Fragen konfrontiert sind. Hier sind natürlich auch wir Demograf*innen gefordert, in unserer Forschung wie auch in der Kommunikation der Ergebnisse die wirklich relevanten Fragen klar anzusprechen.
Die Fragen stellte Annick Eimer.
ÜBER DIE DEMOGRAFISCHE FORSCHUNG AUS ERSTER HAND
Der Infoletter „Demografische Forschung Aus Erster Hand“ wird von den führenden demografischen Forschungseinrichtungen im deutschsprachigen Raum herausgegeben. Mit dem Infoletter wollen die Herausgebenden den Dialog zwischen Forschung und Öffentlichkeit intensivieren. Die erste Ausgabe ist 2004 erschienen. Ins Leben gerufen haben ihn Wolfgang Lutz, damals Direktor des Vienna Institute of Demography der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, und der damalige Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock, James W. Vaupel († 27. März 2022). Heute wird der Infoletter vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Kooperation mit dem Institut für Soziologie und Demographie der Universität Rostock, dem Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels, dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden, dem Vienna Institute of Demography der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital (IIASA, ÖAW, Universität Wien) herausgegeben.