ISSN 1613-8856

Max-Planck-Institut für demografische Forschung

Wichtige Verwandtschaft

2025 | Jahrgang 22 | 4. Quartal

Keywords: Beziehungen zwischen den Generationen, Ethik, Geschwister, Onkels, Race, Tanten

Wissenschaftliche Ansprechpartnerin: Bettina Hünteler

Wie funktionierten Familien in der Pandemie? Wie unterstützen Onkel und Tanten berufstätige Eltern? Welche Konflikte entstehen zwischen den Generationen? Und wie bereit sind Familien, einander finanziell oder praktisch zu helfen? Familien stehen aus vielen Blickwinkeln im Fokus der Forschung. Doch meist konzentriert sich diese auf die Kernfamilie – Vater, Mutter, Kind(er). Beziehungen zu anderen Verwandten, etwa zwischen erwachsenen Geschwistern oder zu Cousins und Cousinen, bleiben oft unbeachtet. Dabei spielen auch erweiterte Familien und entferntere Verwandte eine wichtige Rolle bei Sozialisation, Integration und Unterstützung, wie die wenigen Studien dazu zeigen. Kulturelle und ethnische Unterschiede, die diese Dynamiken prägen, wurden ebenfalls bislang wenig erforscht. Untersuchungen aus den USA zeigen etwa, dass in Schwarzen Familien horizontale Verwandte wie (Halb-)Geschwister und Cousins einander oft unterstützen. Solche Netzwerke bieten finanzielle und soziale Hilfe und mildern gesellschaftliche Ausgrenzung und wirtschaftliche Unsicherheit. Mexikanische und puerto-ricanische Familien leben häufiger in einem gemeinsamen Haushalt oder in räumlicher Nähe als weiße Familien. Asiatisch-amerikanische Familien zeichnen sich durch starken Zusammenhalt und Engagement aus. 

Um die Komplexität dieser vielschichtigen Beziehungen besser untersuchen zu können, hat die Wissenschaftlerin Bettina Hünteler vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung gemeinsam mit Kollegen eine Typologie der Beziehungsqualität entwickelt, also eine Einteilung der Beziehungen danach, wie ausgeprägt verschiedene Beziehungsdimensionen sind. Diese Dimensionen entstammen dem sogenannten „Paradigma der intergenerationalen Solidarität“, das sich als Standard für die Bewertung und Beschreibung von Gefühlen, Verhaltensweisen, Einstellungen, Werten und strukturellen Gegebenheiten in intergenerationalen Beziehungen etabliert hat. Das Modell postuliert, dass intergenerationale Solidarität aus sechs Komponenten besteht, nämlich folgenden: die emotionale (Nähe), die assoziative (sozialer Kontakt), die strukturelle (geografische Nähe), die funktionale (unterstützendes Verhalten), die normative (elterliche Verpflichtungen) und die konsensuelle (Übereinstimmung der Einstellungen). Ziel von Bettina Hüntelers Forschung ist, die Qualität der Beziehungen von jungen Erwachsenen zu Familienmitgliedern unterschiedlicher Verwandtschaftsgrade zu charakterisieren. Für ihre Studie nutzte sie Daten der so genannten KINMATRIX-Befragung. Für diesen relativ neuen Datensatz wurden rund 12.000 junge Erwachsene im Alter von 25 bis 35 Jahren aus zehn Ländern zu ihren Beziehungen zu anderen Familienmitgliedern befragt. Die Daten liefern Informationen über die Beziehungen der Befragten zu Mitgliedern der Kernfamilie (Eltern und Geschwister), der erweiterten Familie (Großeltern, Halbgeschwister) und entfernteren Verwandten (Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen). Für diese Studie wurden ausschließlich Personen aus den USA untersucht. Um Aussagen über die Qualität der Beziehungen zwischen den jungen Erwachsenen und ihren Familienmitgliedern treffen zu können, verwendete die Forscherin folgende Indikatoren: 1. geografische Nähe zu den Verwandten, 2. Häufigkeit des Kontakts, 3. emotionale Nähe, 4. soziale Unterstützung, 5. finanzielle Unterstützung und 6. Konflikte. Diese sechs Indikatoren decken vier der sechs Komponenten des „Paradigmas der intergenerationalen Solidarität“ ab. 

Verteilung der Beziehungstypen nach Art der Verwandtschaft

Verteilung der Beziehungstypen nach Art der Verwandtschaft

Abb. 1: Die Balken zeigen die absolute durchschnittliche Anzahl Verwandter mit jeweiligem Beziehungstyp. Nimmt man beispielsweise die Cousinen und Cousins väterlicherseits (2. Verwandtschaftskategorie von unten), hat eine Person im Durchschnitt rund 0,23 Cousins oder Cousinen, mit denen sie eng verbunden ist (rot), 0,4, mit denen sie verbunden, aber autonom ist (schwarz), 0,02, mit denen die Beziehung unharmonisch, aber unterstützend ist (dunkelgrau), 0,1, mit denen die Beziehung vertraut, aber entfernt ist (blau), und 3,44, mit denen sie eine distanzierte Beziehung führt (hellgrau).  Quelle: KINMATRIX, eigene Berechnungen

Die Wissenschaftlerin stellte fest, dass es fünf Klassen typischer Beziehungsmuster in den Familienbeziehungen gibt, nämlich folgende: „eng verbunden“, „verbunden, aber autonom“, „unharmonisch, aber unterstützend“, „vertraut, aber distanziert“ und „distanziert“. Jede dieser Beziehungen ist genau charakterisiert: So sind zum Beispiel „eng verbundene“ Beziehungen von Wohnortnähe, häufigem Kontakt, hoher emotionaler Nähe, sozialer und finanzieller Unterstützung und relativ wenig Konflikt geprägt. Im Gegensatz dazu zeichnen sich „distanzierte“ Beziehungen durch geringe Intensität in allen Dimensionen aus. 

Die Forscherin fand heraus, dass, je weiter entfernt verwandt zwei Personen sind, desto schwächer auch die Beziehung ist. Die engsten Bindungen bestehen zur Kernfamilie, vor allem zu den Müttern. Dennoch pflegen viele auch enge Beziehungen zu Verwandten außerhalb der Kernfamilie, etwa zu Halbgeschwistern und Großeltern – insbesondere zu den Großmüttern oder zu Tanten mütterlicherseits. Ein interessantes Ergebnis ist, dass bis zu 20 Prozent der Beziehungen innerhalb der Kernfamilien „distanziert“ sind, besonders zu Vätern und Geschwistern. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit neueren Forschungen zur „Entfremdung“ in Eltern-Kind- und Geschwisterbeziehungen im Erwachsenenalter. Umgekehrt sind nur etwa sechs Prozent aller Beziehungen zu entfernten Verwandten „eng verbunden“. Dennoch machen sie 20 Prozent aller „eng verbundenen“ Beziehungen aus. Obwohl also „enge“ Bindungen deutlich seltener sind, macht ihre hohe Zahl, insbesondere bei Cousins und Cousinen, sie zu einem bedeutenden Netzwerk. 

Die damit einhergehende Bedeutung der entfernten Verwandten sei bemerkenswert, so die Wissenschaftlerin. Vor allem, weil diese so zahlreich seien, könnten sie als „Beziehungsreserve“ in schwierigen Zeiten durchaus relevant sein. Und genau diese „Beziehungsreserve“ ist in früheren Untersuchungen, die nur die Kernfamilie im Blick hatten, übersehen worden. Entscheidend ist hierbei vor allem die hohe Zahl an engen Verbindungen zu entfernten Verwandten. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand eine enge Bindung zu einem entfernten Verwandten hat, ist deutlich geringer als bei der Kernfamilie. Da es aber deutlich mehr entfernte Verwandte als Angehörige der Kernfamilie gibt, bildet dieser erweiterte Teil der Familie eindeutig einen relevanten Teil des engeren Familiennetzwerks oder der „latenten Verwandtschaftsmatrix“, deren Unterstützungspotenzial in Zeiten der Not (re)aktiviert werden kann. 

Racial/Ethnische Unterschiede in den familiären Beziehungstypen

Racial/Ethnische Unterschiede in den familiären Beziehungstypen

Abb. 2: Die Abbildung zeigt die absolute Zahl Verwandter in jedem Beziehungstyp für die verschiedenen Verwandtschaftskategorien, unterschieden nach Race/Ethnizität. Es zeigen sich klare Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen. Für alle gilt jedoch: Die Bindung zur Kernfamilie ist am größten, aber das erweiterte Netzwerk ist aufgrund seiner Größe auch nicht zu unterschätzen. Quelle: KINMATRIX, eigene Berechnungen

In einem zweiten Schritt untersuchte die Wissenschaftlerin, ob die Familienbeziehungen in verschiedenen racial/ethnischen Gruppen unterschiedlich sind. Die befragten jungen Menschen konnten sich folgenden Bevölkerungsgruppen zuordnen: weiß, Schwarz, hispanic und asiatisch. Die Wissenschaftlerin stellte viele Gemeinsamkeiten zwischen den Gruppen fest, aber auch deutliche Unterschiede: Die asiatischen Befragten konzentrierten sich beispielsweise stärker auf die Aufrechterhaltung enger familiärer Bindungen als die anderen ethnischen Gruppen. Das entspricht der sogenannten „kindlichen Pietät“, eine Norm, die nach konfuzianischer Tradition von Kindern Gehorsam und Respekt gegenüber den Eltern fordert und verstärkt in asiatisch-amerikanischen Familien vorzufinden ist. In Schwarzen Familien hingegen sind die Bindungen innerhalb der Kernfamilie eher schwächer, was hauptsächlich daran liegt, dass die Bindung zwischen den befragten jungen Erwachsenen und ihren Vätern schwächer ist. Gleichzeitig sind diese jungen Erwachsenen stärker in ihren erweiterten Familienkreis integriert: Fast die Hälfte aller engen Bindungen unter jungen Schwarzen Erwachsenen waren zu Mitgliedern ihrer erweiterten Familie. Darüber hinaus hatten Schwarze Befragte häufiger eine größere Anzahl von „verbundenen, aber autonomen“ Beziehungen – insbesondere im erweiterten Familienkreis, aber auch in der Kernfamilie mit Geschwistern –, was darauf hindeutet, dass die schwächere Bindung an die Kernfamilie durch stärkere Bindungen in den erweiterten Familienkreis kompensiert werden könnte. Frühere Studien haben gezeigt, dass räumliche Nähe zu Verwandten und ein hohes Maß an Unterstützung im Alltag die Norm in Schwarzen Familien sind. Allerdings deuten andere Studien auch darauf hin, dass der Austausch finanzieller und emotionaler Unterstützung innerhalb der Verwandtschaft in weißen Familien wahrscheinlicher ist als in Schwarzen Familien. Die stärkeren horizontalen Beziehungen in den Verwandtschaftsnetzwerken Schwarzer Familien könnten dennoch eine wichtige Beziehungsressource darstellen, die bisher weitgehend übersehen wurde, so die Forscherin.

Insgesamt zeige die Studie, dass es wichtig sei, auch die Verwandtschaftsbeziehungen jenseits der Kernfamilie genauer zu untersuchen, weil diese eine nicht vernachlässigbare Ressource für viele Menschen darstelle. 

Literatur

  • Hünteler, B., K. Hank, D. Alburez-Gutierrez and T. Leopold: A typology of younger adults‘ nuclear and extended family relations in the United States. Journal of Marriage and Family [First published on- line: 30 June 2025].
    DOI: 10.1111/jomf.70014

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