Ein Virus hat seine eigene Demografie: Je nachdem, in welchem Verhältnis Vermehrung und Sterblichkeit zueinander stehen, greift es um sich oder zieht sich zurück. Influenza A kann sich nicht allein vermehren; es muss den Replikationsapparat der menschlichen Zellen für seine Vermehrung nutzen. Wie andere Wirbeltiere hat der Mensch ein Immunsystem, das lernen kann, spezifische Formen des Influenzavirus zu erkennen. Es kann die Vermehrung des Virus bremsen und behält das Virus für einen nächsten Angriff in Erinnerung. Warum also stirbt das Virus nicht allmählich aus? Die Antwort ist: Nicht alle Viren sind perfekte Kopien ihrer Eltern. Kleine Mutationen ermöglichen es dem Virus, sich dem Wiedererkennen zu entziehen, und diese Mutanten können in folgenden Generationen dominieren. Jede neue Virusgeneration weicht ein wenig von der genetischen Form seiner Eltern ab. Das menschliche Immunsystem wird durch diese kleinen Änderungen nicht unbedingt ganz ausgetrickst, doch wird seine Effektivität eingeschränkt. Daher muss jährlich ein neuer Impfstoff hergestellt werden.
In den meisten Jahren veränderte sich das Virus, und das Immunsystem des Menschen reagierte darauf, so dass ein Gleichgewicht aufrecht erhalten wurde. 1918, 1957, 1968 und 1977 (vermutlich auch 1847 und 1890) machte das Virus größere genetische „Sprünge“. Normalerweise stellt das Virus für ältere Menschen die größte Gefahr dar. Jedoch legen Erkenntnisse aus demografischen Studien und dem Labor nahe, dass gerade Ältere 1957 und 1968 unbeeinträchtigt blieben, sofern sie vor 1890 geboren wurden. Denn in ihren Körpern war noch die Erinnerung an die Viren 70 Jahre zuvor wach. Jüngere Menschen hingegen waren diesen Viren nie begegnet, so dass eine weltweite Pandemie ausbrach. Als ihre Immunsysteme gelernt hatten, mit dem neuen Virus umzugehen, war das Kräftegleichgewicht zwischen Mensch und Virus schnell wieder hergestellt.
Abb. 1: Anzahl der Grippetoten pro 1 Million Einwohner.
Die jährlichen auf Influenza zurückgehenden Todeszahlen sind in Abbildung 1 für England und Wales dargestellt (für diese Regionen liegen die längsten Datenserien großer Bevölkerungen vor). Die wirklichen Auswirkungen der Virusinfektion sind größer, denn diese Darstellung berücksichtigt nicht die ökonomischen Konsequenzen sowie Todesfälle durch Lungenentzündung, Herzinfarkt und andere Erkrankungen, die der Grippe folgen. Die vertikale Achse ist logarithmisch angelegt. Das komprimiert die höheren Werte, zeigt aber umso deutlicher, was bei niedriger Sterblichkeit passiert, wie wir sie heute erleben.
Die Spanische Grippe 1918 war die schlimmste Pandemie. Auf eine Million Einwohner kamen 3000 Todesfälle – eine zehnmal höhere Todesrate als bei den früheren und späteren Pandemien. Schätzungsweise 50 Millionen Menschen starben während dieser Pandemie, was zwei bis drei Prozent der Erdbevölkerung entspricht. Es könnten auch bis zu 100 Millionen Grippetote gewesen sein.
Ebenso auffällig wie der Gipfel der influenzabedingten Todesfälle sind die niedrigsten Werte: Nach der Pandemie 1847 sank die Sterblichkeit lange. 1880 starben nur fünf Millionen Menschen direkt an Influenza – ein Niveau, das wir auch heute beobachten, obwohl die Bevölkerung jetzt durchschnittlich älter ist. Der Rückgang im 19. Jahrhundert kann kein medizinisches Verdienst sein, sondern muss auf Änderungen des Virus zurückgehen – erst 1930 erkannte man, dass ein Virus die Influenza auslöst, Impfstoffe gibt es erst seit 1950 und antivirale Medikamente seit 1980. Das niedrige Niveau der Grippesterblichkeit hielt nicht an; 1889 bis 1891 meldete sich die Influenza in dramatischer Weise zurück. Die Sterblichkeit stieg um den Faktor 100. Die Zahlen in den 1880er-Jahren mögen auf Grund der geringen Grippesterblichkeit unterschätzt sein, doch der steile Anstieg wird durch Daten aus Berlin, Österreich und der Schweiz bestätigt. Nach der Spanischen Grippe sank die Zahl der Grippetoten im 20. Jahrhundert auf niedrige Niveaus. Selbst die genetischen Sprünge des Virus 1957 und 1968 verursachten keine so hohen Opferzahlen wie 1918, auch wenn sie die Sterblichkeit weltweit erhöhten.
In der Zeit der Pandemie 1847 stieg die Sterblichkeit in den von der Influenza am stärksten betroffenen Altersgruppen um 20 Prozent.Während der Grippe 1890 erhöhte sich die Sterblichkeit insgesamt um nur zehn Prozent, 1957 und 1968 noch weniger. Die Pandemie 1977 beeinflusste die Sterblichkeit kaum noch. Wir könnten schlussfolgern, dass der Mensch das Virus – abgesehen von dem 300-prozentigen Anstieg in einigen Altersgruppen während der Spanischen Grippe – besiegt hat. Bemerkenswerte Forschung ermöglichte es 2005, die Genetik des Virus von 1918 aus dem Gewebe von Todesopfern zu rekonstruieren. Trotzdem sind noch Fragen offen: Warum tauchte das Virus 1918 auf? Woher kam der Erreger? Warum war er so virulent? Die Befürchtung eines zweiten 1918 treibt die Influenzaforschung an.