In Deutschland fanden die letzten Zensen im Jahr 1987 (West) und 1990 (Ost) statt. Seither werden die Bestände von Jahr zu Jahr fortgeschrieben. Der große zeitliche Abstand zur letzten Zählung hat jedoch zur Folge, dass die Bevölkerungsschätzung zunehmend schlechter wird. Dies erklärt sich durch Fortschreibungsfehler, die beispielsweise entstehen, wenn Wohnortwechsel nicht vollständig verbucht sind: Während Umziehende ihre Anmeldung am neuen Wohnort vornehmen, wird die Abmeldung unter der alten Adresse häufig unterlassen. Eine zusätzliche Person im Register wird erzeugt, welche nicht tatsächlich vorhanden ist. Jedes Kalenderjahr schieben sich diese „Karteileichen“ durch die Fortschreibung der Bestände in ein höheres Alter. Sie werden besonders im hohen Alter sichtbar, da die Jahrgänge infolge der Sterblichkeit zunehmend kleiner werden und der relative Anteil der „Karteileichen“ am Bestand steigt.
Welches Ausmaß hat der Fehler? Um dies zu beantworten, wurdein der vorliegenden Studie die Bevölkerung von 1960 bis 2004 rekonstruiert (Human Mortality Data Base; www.mortality.org). Dazu führten wir aus den tatsächlich beobachteten Sterbefällen Rückberechungen durch und glichen diese mit Daten der Rentenversicherung ab. So lassen sich korrigierte Bestände für Deutschland in der notwendigen Qualität nach Einzelalter und bis in das höchste Lebensalter herleiten und mit den offiziellen Zahlen vergleichen.
Abb. 1: Unterschiede zwischen amtlicher und rekonstruierter Bevölkerungsstatistik im Alter 90+; Quelle: Daten der amtlichen Statistik des Bundes und der Länder und Sonderauswertung im Forschungsdatenzentrum der Deutschen Rentenversicherung Bund 2003, Human Mortality Data Base (eigene Berechnungen).
In Abbildung 1 sind die Unterschiede zwischen amtlichen und rekonstruierten Bevölkerungsdaten für die Altersgruppe 90+ dargestellt. Werte im positiven Bereich bedeuten, dass die Bestandszahlen in der offiziellen Statistik zu hoch liegen. Generell sichtbar ist, dass Abweichungen jeweils im Anschluss an durchgeführte Volkszählungen besonders klein ausfallen, aber mit zunehmendem zeitlichen Abstand wachsen. Im Osten sind große Differenzen vor allem vor der Volkszählung im Jahr 1964 zu beobachten. Die heutige Überschätzung der Bevölkerung im hohen Alter betrifft insbesondere die Bestände im Westen: Ende 2004 ist der Wert bei Männern bei etwa 40 Prozent und bei Frauen bei etwa 15 Prozent angelangt.
Fortschreibungsfehler dieser Art sind in vielen Ländern zu beobachten und auch vergleichend beschrieben. In Deutschland ist die Fehlerquelle seit 2005 durch eine veränderte An- und Abmeldepraxis in den Einwohnermeldeämtern ausgeschlossen. Nur ein erneuter vollständiger Zensus könnte jedoch die bereits bestehenden „Karteileichen“ aufdecken, und somit zur Qualitätssicherung in der amtlichen Statistik beitragen. Denn auch weiterführende Berechnungen können von der systematischen Verzerrung betroffen sein: So liegt beispielsweise der Anteil Pflegebedürftiger oder die Häufigkeit von Krebs und Demenz in der Altersklasse 90+ vermutlich weit höher als heute angenommen, da die Bevölkerung an sich überschätzt wird. Da der Fehler unterschiedlich zwischen Männern und Frauen ausfällt, würde eine Korrektur zudem Aussagen darüber relativieren, wie stark die Geschlechter im hohen Alter von Pflegebedürftigkeit oder einzelnen Krankheiten berührt sind.