Max-Planck-Institut für demografische Forschung /Vienna Institut of Demography

Geburtenraten in vielen Industriestaaten steigen wieder

2010 | Jahrgang 7 | 1. Quartal

Keywords: Geburtenraten, Fertilitätsverhalten-und trends, Geburtenpolitik, Arbeitsmarkteinfluss auf die Fertilität

Joshua R. Goldstein, Tomásˇ Sobotka und Aiva Jasilioniene

Ende des 20. Jahrhunderts sank die zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) in vielen Ländern Süd- und Osteuropas auf Werte von unter 1,3 Kindern pro Frau. 2002 wiesen 16 europäische Staaten – die zusammen 58 Prozent der europäischen Bevölkerung repräsentieren – eine solch extrem niedrige Geburtenrate auf (Abb. 1). 

Abb. 1: Zahl der Länder Europas und Ostasiens mit einer zusammengefassten Geburtenziffer unter 1,3 in den Jahren 1990 bis 2008. Quelle: Eurostat, Nationale Statistische Ämter.

Zahlreiche Länder im östlichen Asien, wie Japan, Korea und Singapur, reihten sich in die Liste der „Lowest-low fertility countries“ ein. Die Besorgnis unter Demografen und Politikern nahm zu, dass sich der Trend zu einer besonders geringen Fertilität in den Industrieländern verfestigt. Langfristig hieße dies, dass die Bevölkerungen stärker altern, Bevölkerungszahlen deutlicher zurückgehen und der Wirtschaft vermehrt Arbeitskräfte fehlen könnten. 

In diesem Zusammenhang überraschen die Zahlen zur jüngsten Geburtenentwicklung aus der vergleichenden Länderstudie: In den meisten der untersuchten Industrienationen stieg die TFR im Zeitraum 2003 bis 2008 wieder an (Abb. 2a und 2b). Zum ersten Mal seit dem Babyboom der 1960er Jahre erhöhen sich damit die Geburtenraten in den entwickelten Ländern weltweit gleichzeitig. Von den 16 europäischen Staaten mit extrem geringer Fertilität im Jahr 2002 unterschritt 2008 nur noch Moldawien den Wert von 1,3. Das Ausmaß des Anstieges ist mancherorts bemerkenswert (Abb. 2a). So liegt die TFR in Ostdeutschland heute wieder bei 1,4, nachdem sie 1994 im Verlauf der deutschen Vereinigung auf den historischen Tiefststand von 0,8 gefallen war. Estland verzeichnete eine Zunahme von 1,2 (1998) auf 1,7 (2008). In Bulgarien, Tschechien und der Ukraine erhöhte sich die zusammengefasste Geburtenziffer in diesem Zeitraum von 1,1 auf etwa 1,5 Kinder pro Frau. 

Abb. 2a und 2b: Geburtentrend in ausgewählten Ländern, 1989–2008. Quelle: Eurostat, Nationale Statistische Ämter.

Aber auch in Ländern, in denen bereits vorher durchschnittlich mehr Kinder zur Welt kamen, gibt es Fertilitätsanstiege (Abb. 2b): So weisen Australien, Frankreich, Norwegen und Großbritannien erstmals seit 1970 eine TFR von rund zwei Kindern pro Frau auf. Sie haben damit nach Jahrzehnten erneut fast das Bestandserhaltungsniveau von 2,1 erreicht, welches nötig ist, damit jede Folgegeneration die vorhergehende zahlenmäßig ersetzen kann. Ausnahmen sind Österreich und Westdeutschland: Hier hat sich das Geburtenniveau bis 2008 kaum erhöht. 

In allen Industriestaaten ist das Alter bei Erstgeburt in den vergangenen vier Jahrzehnten deutlich gestiegen. Zu den Gründen zählen längere Ausbildungszeiten, eine höhere Frauenerwerbsquote, die zunehmend unsichere Arbeitsmarktsituation für junge Erwachsene und der verbreitete Zugang zu modernen Verhütungsmethoden. Die Tatsache, dass immer mehr Frauen immer später Kinder bekommen, beeinflusst auch die zusammengefasste Geburtenziffer: Deren Wert für ein bestimmtes Kalenderjahr fällt umso geringer aus, je stärker die Menschen Geburten in höhere Alter verlegen (Tempo-Effekt). Erst seit 2000 ist die Tendenz zu einer immer späteren Geburt etwas abgeflaut, und die Geburtenraten erholen sich. Mehr als die Hälfte des gegenwärtigen Fertilitätsanstiegs lässt sich allein dadurch erklären, dass Frauen heute Geburten weniger stark aufschieben als noch in den 1990er Jahren (Abb. 3).

Abb. 3: Anteil am Gesamtfertilitätsanstieg (als Differenz zum jeweils niedrigst gemessenen TFR-Wert eines Landes), der dem Rücklauf des Geburtenaufschubs zuzuordnen ist. Quelle: Eigene Berechnungen.

 Schwieriger einzuschätzen ist, inwieweit die Familienpolitiken zum Anstieg beigetragen haben. Eine Umfrage der Vereinten Nationen im Jahr 2007 verdeutlichte, dass insbesondere Länder mit extrem niedriger Fertilität die Geburtenrate durch sozialpolitische Maßnahmen erhöhen wollten. Einige scheinen Erfolg zu haben: So trat in Russland 2007 eine Gesetzesänderung in Kraft, durch die Eltern vor allem beim zweiten und dritten Kind zusätzliche Zahlungen erhielten. Gleichzeitig stieg die zusammengefasste Geburtenziffer von 1,3 auf 1,5 im Zeitraum 2006 bis 2008. Estland führte 2004 ein großzügig bemessenes Elterngeld ein, wonach sich die Geburtenrate jüngst deutlich erhöhte. Seit 2007 bekommen Eltern in Spanien eine Einmalzahlung für jedes Kind, die 2008 zu mehr Geburten geführt haben könnte. Jedoch zeigen Reformen nicht überall Wirkung: So hat die japanische Regierung zwei Jahrzehnte lang verschiedenste Anreizmodelle zur Steigerung der Geburtenrate ausprobiert – bislang ohne Erfolg. 

In Zusammenhang stehen hingegen Geburtenverhalten und Wirtschaftslage. In den Jahren 2000 bis 2007, vor dem Ausbruch der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise, war die Arbeitsmarktsituation in den meisten Industrieländern eher entspannt. Die Analysen zeigen: Positives Wirtschaftswachstum und sinkende Arbeitslosenraten trugen – wenn auch von Land zu Land in unterschiedlichem Maße – dazu bei, dass mehr Kinder zur Welt kamen. Besonders in Polen, Spanien und in der Slowakei ließen sich Frauen bzw. Paare durch gute Stimmung am Arbeitsmarkt ermutigen, ihren Kinderwunsch umzusetzen. 

Unsere Studie legt nahe: Die Zeiten extrem niedriger Geburtenraten sind zunächst vorüber. Doch mit welcher Entwicklung ist in Zukunft zu rechnen? In den kommenden Jahren wird die Wirtschaftskrise sehr wahrscheinlich zu erneuten Fertilitätsrückgängen führen, insbesondere in Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit. Bereits in der Vergangenheit setzten Menschen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten verstärkt ihre Familienplanung aus. Dass die gegenwärtige Krise wohl keine Ausnahme darstellt, unterstreichen die vorläufigen Geburtenzahlen von Eurostat für 2009: Demnach ist die Zahl Neugeborener in der Europäischen Union leicht gefallen, verglichen mit einem Anstieg von 2,7 Prozent im Jahr 2008. 

Für die Zeit nach der Wirtschaftskrise stehen die Zeichen jedoch gut, dass sich die Geburtenraten in Europa nochmals erhöhen. Geburten lassen sich nicht endlos in immer höhere Altersgruppen verschieben. So wird die zusammengefasste Geburtenziffer zukünftig vermutlich allein deshalb steigen, weil der Tempo-Effekt weiter an Bedeutung verliert. Auch die Bemühungen der Politik, jungen Menschen durch verbesserte Rahmenbedingungen die Entscheidung für ein Kind zu erleichtern, könnten Früchte tragen. 

Für jene Regionen Ostasiens, deren Fertilität auch heute noch auf sehr niedrigem Niveau liegt, ist nicht ausgeschlossen, dass sie der weltweit beobachteten Trendumkehr bald folgen. Treffen unsere Prognosen zu, sieht der Blick in die Zukunft nicht ganz so düster aus wie noch vor einigen Jahren beschrieben.

Literatur

  • Goldstein, J.R., T. Sobotka and A. Jasilioniene: The end of „lowest-low” fertility? Population and Development Review 35(2009)4: 663-699.

Titelseite dieser Ausgabe

Aus Ausgabe 2010/1

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