Vienna Institute of Demography

Wirtschaftskrise stoppt Anstieg der Geburtenziffern

2011 | Jahrgang 8 | 2. Quartal

Keywords: Besorgnis, Entscheidungsfindung, Fertilität, Inhaltsanalyse, Qualitative Studie

Mitautor der wissenschaftlichen Studie: Tomáš Sobotka

Das Konjunkturtief von 2008/09 war die erste weltweite Rezession seit den Ölkrisen der 1970er Jahre. Vor allem hoch entwickelte Länder waren betroffen: Sie mussten 2009 Einbußen des Bruttoinlandsproduktes um durchschnittlich 3,2 Prozent hinnehmen. Man würde vermuten, dass in wirtschaftlich schweren Zeiten die Geburtenziffern sinken – diese Ansicht entspricht der klassischen ökonomischen Theorie. Schon Ende des 18. Jahrhunderts formulierte dies Adam Smith und setzte das Tempo des Wirtschaftswachstums zur Bevölkerungsentwicklung in Bezug. Angenommen wird auch, dass durch Rezessionen die Kohortenfertilität nicht lebenslang sinkt, sondern dass die Fertilitätsziffer nur zeitweilig zurückgeht, weil viele Frauen und Männer ihre Familienplanung in wirtschaftlich bessere Zeiten aufschieben. 

Im Gegensatz dazu besagen andere Theorien, dass ökonomisch angespannte Zeiten auch zu einer Steigerung der Geburtenziffer führen könnten. Die antizyklische Theorie der Fertilität von William Butz und Michael Ward bietet dazu einen Erklärungsansatz: Die rasche Zunahme der Bildung und der Anstieg der Erwerbsquoten von Frauen verteuern Familiengründungen in wirtschaftlich florierenden Zeiten, weshalb solche Phasen in Zukunft mit niedrigen Fertilitätsziffern verknüpft wären. 

Sowohl die historischen wie neuere demografische Analysen stützen die konventionelle Sicht. Dem Beginn einer Rezession folgen oft rückläufige Fertilitätsziffern. Da die meisten Rezessionen relativ kurz sind, dauert dieser Rückgang wenige Jahre. Für gewöhnlich bleiben die negativen Auswirkungen einer Wirtschaftskrise auf die Fertilität relativ gering und lassen sich mitunter gar nicht klar bestimmen, falls die Fertilität auch vor dem wirtschaftlichen Abschwung bereits rückläufig war – wie es in den 1970er Jahren der Fall war. 

Tab. 1: Veränderungen im Bruttoinlandsprodukt (BIP) und in der Periodenfertilität (TFR) in 26 Ländern mit niedrigen Fertilitätsziffern:

Anm.: Annahme ist, dass sich eine Rezession mit etwa einjähriger Verzögerung in einer Veränderung der TFR zeigt. Die aktuellsten Daten zum BIP sind von 2007 und zur TFR von 2008. Eingeschlossen sind sämtliche OECD-Länder mit Ausnahme von Chile, Estland, Island, Israel, Luxemburg, Mexiko, Slowenien und der Türkei. Quellen: OECD, Europarat, Eurostat und statistische Ämter der Einzelstaaten.

Eine Rezession wird oft mit drei verschiedenen Indikatoren gemessen: sinkendes Bruttoinlandsprodukt (BIP), sinkendes Verbrauchervertrauen und steigende Arbeitslosigkeit. In der neuen Studie werden die jährlichen BIP-Trends von 1980 bis 2007 in 26 Ländern mit geringer Fertilität betrachtet, um die Beziehung zwischen der Wirtschaftsentwicklung und Veränderungen der Fertilitätszahlen im Jahr darauf darzustellen (Tabelle1; Auswirkungen des jüngsten wirtschaftlichen Abschwungs werden nicht berücksichtigt). Basierend auf insgesamt 701 Beobachtungen fiel die Fertilität in 55 Prozent der Fälle, was auf eine rückläufige Tendenz in diesem Zeitraum hinweist. Allerdings nahm auch in Phasen wirtschaftlichen Aufschwungs (BIP-Anstieg um mindestens 1,0 Prozent) die Fertilität in fast ebenso vielen Fällen ab wie zu (51 bzw. 49 Prozent). Wenn das BIP stagnierte (Anstieg unter 1,0 Prozent), sanken die Fertilitätsziffern in 65 Prozent der Fälle. Trat dagegen eine Rezession auf und ging das BIP zurück, sank die Fertilität in 81 Prozent aller Fälle bald danach. Abnehmende Fertilität war also nach Krisenzeiten viermal wahrscheinlicher als eine Zunahme. 

Nun sind BIP-Trends als Messgröße für die Rezession möglicherweise zu abstrakt. Die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen dagegen hat direkte Auswirkungen auf das Leben der Menschen und ihre Wahrnehmung des Ausmaßes eines wirtschaftlichen Abschwungs. Negative Signale können hier Unsicherheit und Angst vor einem Arbeitsplatzverlust schüren. Die Analysen der Daten für die Jahre 2007/08 in der Europäischen Union (EU) zeigen einen deutlichen negativen Zusammenhang von Änderungen in der Arbeitslosenquote und Änderungen der Fertilität im folgenden Jahr (Korrelationskoeffizient von 0,54). 

Abb. 1: Trends in der zusammengefassten Geburtenziffer (TFR) während der jüngsten Wirtschaftskrise in ausgewählten Ländern Europas und in den USA: drei Veränderungsmuster in der Fruchtbarkeit. Anm.: Gestrichelte Daten für 2010 sind vorläufige Schätzungen, die auf den berichteten vorläufigen Gesamtgeburtenzahlen oder Fruchtbarkeitsziffern für das gesamte Jahr oder für einen Teil des Jahres basieren. Die senkrechte Linie in Grau markiert das Jahr 2008, den Beginn der Rezession. Quellen: OECD, Europarat, Eurostat und statistische Ämter der Einzelstaaten.

In Abbildung 1 sind unterschiedliche Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die Geburtenentwicklung dargestellt, indem Trends in der Periodenfertilität (zusammengefasste Geburtenziffer/TFR) zwischen 2000 und 2009/10 in ausgewählten europäischen Ländern und in den USA in drei Gruppen unterteilt werden. Die erste relativ kleine Gruppe bilden Spanien, Lettland und die USA, wo die Rezession eine plötzliche Trendumkehr im bisherigen Muster einer ansteigenden Fertilität herbeiführte. Diese Länder wurden vom wirtschaftlichen Abschwung relativ heftig getroffen. Im Extremfall von Lettland vervierfachten sich die Arbeitslosenzahlen zwischen 2007 und 2010 von fünf auf 20 Prozent, während die TFR von 1,48 (2008) auf geschätzte 1,16 im Jahr 2010 fiel (Abb. 1A). Eine größere Ländergruppe, bestehend aus England und Wales, Irland, Italien, Tschechien, Slowenien, Estland und der Ukraine, verzeichnete stagnierende Fertilitätsziffern, die einer Phase von allgemein zunehmender Fertilität seit 1998 folgten (Abb. 1B). In Bulgarien, Deutschland, Island, Schweden, der Schweiz und der Slowakei schließlich war keine klare Trendänderung in Bezug auf die einsetzende Rezession festzustellen (Abb. 1C). 

Das Fehlen von eindeutigen fertilitätsbezogenen Reaktionen auf die jüngste Rezession in manchen Ländern könnte mit deren relativ mildem Verlauf dort zu tun haben – oder auch mit den Auswirkungen von sozial-, beschäftigungs- und familienpolitischen Maßnahmen. Eine weitere Erklärung ist, dass Individuen je nach Geschlecht, Alter, Kinderzahl, Bildungsgrad und Migrationsstatus unterschiedlich auf eine Rezession reagieren. Das aggregierte Ergebnis all dieser unterschiedlichen Reaktionen, das von Indikatoren wie der zusammengefassten Geburtenziffer gemessen wird, stellt dann eine Art Nettobilanz der verschiedenen individuellen Reaktionen dar, die einander oft auch ausgleichen. 

Bei Forschungsdaten auf der Individualebene zeigt sich, dass die Wahrscheinlichkeit, in Zeiten eines wirtschaftlichen Abschwungs Kinder zu bekommen, bei jungen und noch kinderlosen Personen am geringsten ist. Das liegt teilweise an den hohen Kosten für ein erstes Kind, da hier oft eine Änderung der Wohnverhältnisse notwendig wird. Ein weiterer Grund ist, dass der Beschäftigungsstatus und damit das Einkommen in Rezessionen bei jüngeren Menschen noch unsicherer sind. Vor allem gut ausgebildete Frauen, und hier vor allem kinderlose, reagieren auf Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt mit einer Verschiebung ihrer Fertilität, wohingegen sich bei Frauen mit geringerem Bildungsgrad die Geburtenziffern in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit oft erhalten oder erhöhen. Andererseits zeigen Männer mit geringer Bildung und niedriger Qualifi kation, die von Rezessionen am stärksten betroffen sind, den deutlichsten Rückgang bei den Erstgeburtenzahlen. 

Insgesamt hat der jüngste globale wirtschaftliche Abschwung dem seit den 1960er Jahren ersten durchgängigen Anstieg der Fertilität in den entwickelten Ländern ein Ende gesetzt. Verzeichneten alle EU-Mitgliedsländer (außer Luxemburg) 2008 steigende Fertilitätsraten, gingen schon 2009 die Geburtenraten in 13 Ländern zurück und stagnierten in weiteren vier Staaten. Schlüsselfaktor hinter diesem Trend war zweifellos die zunehmende Arbeitslosigkeit bzw. Arbeitsplatzunsicherheit. In vielen entwickelten Staaten dürften zudem Einschnitte bei den Sozialausgaben, die der Not mit explodierenden Budgetdefiziten geschuldet sind, die Auswirkungen der Rezession auf die Fertilität noch über deren Ende hinaus verlängern.

Literatur

  • Sobotka, T., V. Skirbekk and D. Philipov: Economic recession and fertility in the developed world. Population and Development Review 37(2011)2: 267-306.

Titelseite dieser Ausgabe

Aus Ausgabe 2011/2

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