ISSN 1613-8856

Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels

Das erste Lebensjahr prägt

2013 | Jahrgang 10 | 4. Quartal

Keywords: Altersdemenz, Entwicklungsursprünge

Mitautorin der wissenschaftlichen Studie: Gabriele Doblhammer

Allein in Deutschland leben derzeit rund 1,4 Millionen Menschen mit einer Demenz. Im Jahr 2050 werden es 2 bis 3 Millionen sein, schätzen Wissenschaftler des Rostocker Zentrums zur Erforschung des Demografischen Wandels. Die Gründe für diesen Trend sind ebenso einfach wie einleuchtend: Da die Menschen immer älter werden, nehmen Alterskrankheiten wie Alzheimer und andere Formen der Altersdemenz zu. Neue Daten für Deutschland zeigen, dass etwa die Hälfte der über 95-Jährigen an Demenz erkrankt ist.  

Mit dem Altern der Bevölkerung werde es zunehmend wichtig zu verstehen, welche Faktoren die geistigen Fähigkeiten der älteren Menschen beeinflussten, sagt Gabriele Doblhammer, die Direktorin des Rostocker Zentrums zur Erforschung des Demografischen Wandels. Gemeinsam mit ihren Kollegen Gerard van den Berg und Thomas Fritze hat die Demografin untersucht, inwieweit sich die Wirtschaftslage zu Lebensbeginn auf die kognitiven Fähigkeiten am Ende des Lebens auswirkt. Das Fazit der Forscher ist eindeutig: Wer zu Zeiten einer boomenden Wirtschaft geboren werde, habe die besten Chancen, im Alter lange geistig fit zu bleiben, berichten die Wissenschaftler in der Fachzeitschrift PLOS ONE. 

Für ihre Studie griffen Doblhammer und ihre Kollegen auf die Daten der europaweiten Umfrage SHARE (Survey of Health, Aging and Retirement in Europe) aus den Jahren 2004 bis 2011 zurück, an der rund 150 Wissenschaftler beteiligt sind. In regelmäßigen Abständen befragen sie mehr als 45.000 über 50-Jährige zu ihrem Leben und untersuchen, wie die Menschen in der Europäischen Union altern.  

Das Team um Doblhammer nutzte die Daten von 17.070 Probanden aus zehn europäischen Ländern (Deutschland, Österreich, Schweiz, Belgien, Frankreich, Niederlande, Italien, Spanien, Dänemark und Schweden). Die Befragten kamen zwischen 1900 und 1945 zur Welt und waren zum Zeitpunkt der Interviews mindestens 60 Jahre alt. Um die Ergebnisse der Analyse nicht zu verfälschen, wurden all jene Teilnehmer ausgeschlossen, die während eines Krieges geboren wurden. 

Abb. 1: Die Grafik zeigt die Verteilung der erreichten Gesamtpunktzahl in den Kognitionstests. Untersucht wurden das zeitliche Orientierungsvermögen, das Ultrakurzzeit- und Kurzzeitgedächtnis, die Rechenfähigkeiten sowie die sprachliche Gewandtheit der 17.070 Probanden. Ein Wert unter 15 Punkten weist auf eine kognitive Beeinträchtigung des Getesteten hin. Quellen: SHARE (Wellen 1, 2 u. 4), eigene Berechnungen.

Ihre kognitiven Fähigkeiten mussten die Probanden in fünf Kategorien unter Beweis stellen. Untersucht wurden ihr zeitliches Orientierungsvermögen, ihr Ultrakurzzeit- und Kurzzeitgedächtnis, ihre Rechenfähigkeiten sowie ihre sprachliche Gewandtheit. Für jede der gestellten Aufgaben wurden Punkte vergeben, wobei die Teilnehmer am Ende eine Gesamtpunktzahl von maximal 20 erreichen konnten (s. Abb. 1). Bei der Punkteverteilung orientierten sich Doblhammer und ihr Team an der DemTect-Skala. Diese wurde entwickelt, um kognitive Beeinträchtigungen, auch leichte (siehe Glossar), aufzuspüren.  

Die Wirtschaftslage machten die Wissenschaftler am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf fest. Anschließend teilten sie die Jahre des Untersuchungszeitraums in drei Gruppen ein: in Jahre eines Wirtschaftbooms, in durchschnittliche Jahre und in Jahre einer Rezession.  

Für ihre eigentliche Analyse untersuchten die Forscher, wie sich die Wirtschaftslage im Geburtsjahr auf die kognitiven Fähigkeiten im Alter ausgewirkt hat. Darüber hinaus prüften sie, ob die Jahre vor und nach der Geburt sowie die Zeiträume drei, zehn und zwanzig Jahre nach der Geburt das spätere Denkvermögen beeinflussen. Bei ihrem Vergleich berücksichtigten Doblhammer und ihre Kollegen unter anderem das Alter der Probanden, ihren Bildungsgrad, die familiäre Situation und den gesundheitlichen Zustand der Teilnehmer (s. Tab. 1). 

Tab. 1: Zu sehen sind eine Auswahl an Faktoren, die sich auf die geistigen Fähigkeiten im Alter auswirken. Werte über 1 zeigen an, dass das Denkvermögen positiv beeinflusst wird. Werte unter 1 deuten auf einen gegenteiligen Effekt hin. Die drei Sternchen hinter den Werten zeigen an, dass die Ergebnisse hoch signifikant sind. Stichprobengröße: 17.070. Quellen: SHARE (Wellen 1, 2 u. 4), eigene Berechnungen.

Es zeigte sich, dass eine boomende Wirtschaft im Geburtsjahr die Chance, im Alter geistig fit zu bleiben, um ein Viertel erhöht – bezogen auf die erreichte Gesamtpunktzahl und im Vergleich zu Probanden, die in einem Rezessionsjahr zur Welt gekommen waren (s. Abb. 2). Insbesondere die Rechenfähigkeiten, die sprachliche Gewandtheit und das Gedächtnis seien durch eine schlechte Wirtschaftslage am Beginn des Lebens beeinträchtigt, berichten die Forscher.

Abb. 2: Das Säulendiagramm zeigt, wie eine durchschnittliche oder gute Wirtschaftslage im Geburtsjahr die Chance auf geistige Fitness im Alter erhöht. Als Referenz dienen Geburtsjahre der Rezession (Odds Ratio = 1). Bei der Berechnung 
des Basismodells wurden Geschlecht, Alter und Herkunftsland der Probanden berücksichtigt. In das komplette Modell sind darüber hinaus der Bildungsgrad, der Familienstatus, die Zahl der Kinder und verschiedene gesundheitliche Faktoren mit eingeflossen. Drei Sternchen deuten auf eine hohe, zwei auf eine mittlere, eins auf eine niedrige Signifikanz hin. Stichprobengröße: 17.070. Quellen: SHARE (Wellen 1, 2 u. 4), eigene Berechnungen.

 Ähnliche, wenn auch geringer ausgeprägte Effekte konnte das Team für das Jahr vor der Geburt, nicht aber für das Jahr nach der Geburt ausmachen. Auch im späteren Leben scheint die makroökonomische Lage eines Landes die geistigen Fähigkeiten im Alter nicht mehr zu beeinflussen: Für die Zeiträume drei, zehn und zwanzig Jahre nach der Geburt ließen sich keine statistisch signifikanten Zusammenhänge nachweisen. 

Wie stark sich der Einfluss der Wirtschaftslage im Geburtsjahr auf das Denkvermögen im Alter bemerkbar machte, war von Land zu Land unterschiedlich. Die deutlichsten Effekte verzeichnete das Team um Doblhammer in Deutschland und Italien, kein Zusammenhang fand sich für Österreich und die Schweiz.   

Darüber, auf welche Weise die wirtschaftliche Situation zu Lebensbeginn das menschliche Gehirn so nachhaltig beeinflusst, können die Forscher bislang nur spekulieren. Vermutlich, so schreiben sie, seien sowohl die Babys als auch deren Mütter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts während wirtschaftlich schwacher Zeiten schlechter ernährt gewesen. Auch der zuhause erlebte Stress der Kinder dürfte aufgrund finanzieller Sorgen der Eltern größer gewesen sein als zu Zeiten, in denen die Wirtschaft boomte. Darüber hinaus sei die gesundheitliche Versorgung in Rezessionsjahren oft mangelhaft gewesen – weshalb die Säuglinge dann womöglich häufiger und länger krank waren.

Frühere Studien haben bereits gezeigt, dass sich eine schlechte Ernährung, Stress und häufige Infektionen im Geburtsjahr auf die Gesundheit im späteren Leben negativ auswirken. Mediziner wissen inzwischen zum Beispiel, dass eine mangelhafte Versorgung des Babys im Mutterleib die Stoffwechselvorgänge so beeinflusst, dass das Risiko für Herz-Kreislauf-Leiden und Diabetes im Erwachsenenalter erhöht ist. Diese Krankheiten wiederum vergrößern die Gefahr von kognitiven Beeinträchtigungen und Alzheimer. Womöglich, so schreiben Doblhammer und ihre Kollegen, wirkten sich die drei Faktoren – Ernährung, Stress und Infektionen – aber auch direkt auf das sich entwickelnde Gehirn des Babys aus.  

Ihre Analyse zeige, so lautet das Fazit des Teams, dass in wirtschaftlich schlechten Zeiten vor allem schwangere Frauen und kleine Kinder besondere Unterstützung benötigten. Nur so könnten negative Langzeitfolgen für die geistigen Fähigkeiten der kommenden Generationen vermieden werden.

 

Literatur

  • Doblhammer, G., van den Berg, G. J., Fritze, T.: Economic conditions at the time of birth and cognitive abilities late in life: evidence from ten European countries. PLOS ONE 8(2013)9, e74915.
    DOI: 10.1371/journal.pone.0074915

Aus Ausgabe 2013/4

Artikel

Infoletter

Der kostenlose Infoletter erscheint viermal jährlich und ist sowohl als elektronische wie auch als Druckversion erhältlich.