ISSN 1613-8856

Vienna Institute of Demography

Keine Schule – keine Einwohner?

2015 | Jahrgang 12 | 1. Quartal

Keywords: Demografischer Wandel, Schulschließung, Migrationsraten, Lokale Infrastruktur

Autor der wissenschaftlichen Studie: Bilal Barakat

Schulen sind ein Symbol für die Autonomie, die Tradition und die Identität eines Dorfes. Doch stirbt ein Dorf ohne eigene Schule tatsächlich aus? Bilal Barakat vom Vienna Institute of Demography hat anhand von Daten für das Bundesland Sachsen überprüft, ob es einen Zusammenhang zwischen Schulschließungen und entvölkerten Gemeinden gibt. 

Das ostdeutsche Bundesland könnte dabei aufzeigen, was durch den demografischen Wandel auch in Westdeutschland bald zu beobachten sein dürfte: Die Bevölkerung Sachsens ging durch die allgemeine Ost-West-Migration stark zurück. Die Schülerzahlen in den Grundschulen fielen von 1993 bis 2007 um die Hälfte. Darüber hinaus verfügt das Land über sehr genaue Daten zu Schulen und Einwohnern seiner damals 499 Gemeinden. 

Bis zum Jahr 2001 wurden Schulen in Sachsen tendenziell dann geschlossen, wenn zwei Jahre in Folge weniger als 15 Neuanmeldungen eingegangen waren. Später wurden in Schulnetzplänen neben den aktuellen und prognostizierten Schülerzahlen auch andere Faktoren wie etwa die Ausstattung einer Schule, die Zentralität der Gemeinde und die Schulwegzeiten berücksichtigt. 

Doch wie genau misst man, wie sich eine Schulschlie-ßung auf die Einwohnerzahl auswirkt? Ziehen schon vorher Bewohner weg, weil sie bereits von der drohenden Schließung wissen? Oder zeigt sich der Effekt erst einige Jahre nach der Schließung? 

Wanderungssaldo in Gemeinden nach Anzahl der Grundschulen

Wanderungssaldo in Gemeinden nach Anzahl der Grundschulen

Abb. 1: Mit Ausnahme der großen Städte haben alle Gemeinden in Sachsen spätestens seit dem Jahr 2000 eine negative Migrationsrate. Das heißt, es wandern mehr Menschen ab als zu. Quelle: Statistisches Landesamt Sachsen, eigene Darstellung (geglättet).

Um dieses Problem zu lösen, hat Bilal Barakat in seiner Studie verschiedene Zeiträume vor und nach einer Schulschließung untersucht. Darüber hinaus hat er Gemeinden mit einer unterschiedlichen Anzahl an Schulen und Schulschließungen verglichen (s. Abb. 1). Das Ergebnis dieses Vergleichs ist relativ eindeutig: Gemeinden, in denen die letzte Schule geschlossen wurde, haben spätestens seit dem Jahr 2000 eine negative Migrationsrate. Das heißt, es ziehen mehr Menschen weg als zu. Tatsächlich aber ist diese Entwicklung eine landesweite, die von den Schulschließungen weitgehend losgelöst ist. Ganz gleich ob eine Gemeinde eine, zwei oder drei Schulen hat und ganz gleich ob die letzte oder vorletzte Schule der Gemeinde geschlossen wurde, bis zum Jahrtausendwechsel gab es überall noch eine durchschnittlich positive Migrationsrate. Danach zogen überall mehr Menschen weg als zu (vgl. Abb. 1).

Auch als Bilal Barakat die Effekte von Schulschließungen auf die Zu- und Abwanderung getrennt untersuchte, kam er zu einem ähnlichen Ergebnis. Ob er nun bis zu zwei Jahre vor die Schulschließung zurückging oder deren Auswirkungen bis sechs Jahre nach der Schließung untersuchte: Ein nennenswerter Effekt auf die Abwanderung ließ sich nicht feststellen. Die Zuzüge in eine Gemeinde gehen zwar zurück, wenn eine Schule geschlossen wird – allerdings nur leicht. Für Bilal Barakat sind diese Ergebnisse, die auf den ersten Blick vielleicht überraschen mögen,  durchaus plausibel. Für viele Menschen, so der Demograf, sei eine Schule vor Ort nicht unbedingt entscheidend, und das lokale Wanderungssaldo sei generell nicht von Familienwanderung dominiert. So ist die Schülerbeförderung in Sachsen  relativ gut: Fast alle Schulen – auch in ländlicheren Gegenden – sind innerhalb von 20 Autominuten zu erreichen. Die Grundschulzeit umfasst zudem nur vier Jahre, nach denen die Kinder vermutlich ohnehin zu einer weiterführenden Schule pendeln müssten. Auch sind viele Bewohner in ländlichen Gegenden Hauseigentümer, die nicht ohne weiteres ihr Haus verkaufen können. Insofern, so der Demograf, gebe es genügend andere Kriterien, die darüber entscheiden, ob eine Gemeinde, auch ohne Grundschule für ihre Bewohner und für potentielle Zuzügler attraktiv bleibe

Literatur

  • Barakat, B: A ‘recipe for depopulation’? School closures and local population decline in Saxony. Population, Space and Place [First published online: 6 May 2014].
    DOI: 10.1002/psp.1853

Titelseite dieser Ausgabe

Aus Ausgabe 2015/1

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