In den vergangenen Monaten und Jahren sorgten Flüchtlingsströme und Wanderungsbewegungen häufig für Schlagzeilen. Ganz gleich, ob junge Südeuropäer in anderen Ländern nach besseren Lebensbedingungen suchten, syrische Familien aus ihrem Heimatland flohen oder afrikanische Flüchtlinge sich skrupellosen Schleppern anvertrauten – aus der europäischen Perspektive nimmt die Zahl der Menschen, die in anderen Ländern eine neue Heimat suchen, eindeutig zu. Doch auch weltweit, so ist immer wieder zu lesen, scheinen die Wanderungsbewegungen zahlreicher zu werden. Die Globalisierung, die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich sowie mögliche negative Folgen des Klimawandels werden dabei zumeist als Gründe angeführt. Tatsächlich aber war die Datenlage zu den weltweiten Migrationsströmen bisher mehr als dürftig. Die reine Anzahl der Migranten in den einzelnen Ländern der Welt ist zwar zumeist bekannt, daraus lässt sich aber nicht ableiten, wie viele Migranten wann aus welchem Land wohin gewandert sind. Diese Datenlücke hat dazu geführt, dass viel über eine Zunahme der Migrationsströme und über ihre Ziele diskutiert und spekuliert worden ist. Wie Guy Abel und Nikola Sander jedoch im vergangenen Jahr im Fachmagazin Science berichteten, ist die Zahl der Auswanderungen von 1995 bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes im Jahr 2010 relativ stabil geblieben. Stützen konnten die beiden Wissenschaftler ihr Schätzmodell auf Daten der UN, die sich aus Bevölkerungsregistern, Volkszählungen und Flüchtlingsregistern zusammensetzen. Damit war es erstmals möglich, weltweite Daten zu Wanderungsbewegungen über längere Zeit hinweg und für unterschiedliche Länder und Regionen zu analysieren. Demnach migrierten weltweit von 1995 bis 2010 im Schnitt etwa sechs von tausend Menschen (0,6 Prozent) über einen 5-Jahres-Zeitraum. Zuvor, von 1990 bis 1995, waren noch 7,5 von tausend Menschen gewandert. Als Gründe für das erhöhte Wanderungsvolumen zu Anfang der 1990er Jahre nennen Sander und Abel die kriegerischen Auseinandersetzungen in Ruanda, das von den Sowjets installierte Regime in Afghanistan, sowie den Fall des Eisernen Vorhangs.
Abb. 1:Migrationsströme zwischen den Weltregionen über den Zeitraum 2005-10. Dargestellt sind alle Ströme ab einer Mindestgröße von 140,000 Migranten.
Nach 1995 blieb nicht nur der prozentuale Anteil erstaunlich stabil, sondern auch der Ausgangs- und Zielpunkt einiger Migrationsströme: So war Nordamerika beständig eines der wichtigsten Auswandererziele und auch die Wanderung zwischen den unterschiedlichen Regionen Europas war von Dauer. Ganz generell ließ sich ein bekannter Trend bestätigen: Die entwickelteren Länder gewinnen Migranten hinzu, während die weniger entwickelten Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika mehr Einheimische verlieren als Migranten hinzugewinnen. Doch die beiden Autoren beschränkten sich nicht darauf, mit Hilfe komplexer Berechnungen die Größe von Migrationsströmen zu bestimmen. Sie wählten auch eine neuartige Form der Visualisierung für ihre Ergebnisse. Mit der eigentlich im Bereich der Genetik eingesetzten Software „Circos“ können die beiden Wissenschaftler die wichtigsten Wanderungsbewegungen in einer einzigen Grafik auf einen Blick veranschaulichen.
Die beiden hier abgebildeten Grafiken zeigen die Wanderungsbewegungen im Zeitraum von 2005 bis 2010. Deutlich größer als etwa die Migration von Afrika nach Europa sind die Wanderungen innerhalb der einzelnen Weltregionen bzw. zwischen den Weltregionen eines Kontinents. Denn Umzüge über weite Distanzen auf einen anderen Kontinent gelingen meist nur besser gebildeten Menschen mit entsprechenden finanziellen Ressourcen und Chancen am Arbeitsmarkt. Im Gegensatz zu Afrika hat sich Asien seit den 1990er Jahren immer mehr zu einem wichtigen Drehkreuz globaler Migrationsströme entwickelt, was auch mit dem wirtschaftlichen Wachstum und der Bildungsexpansion zusammenhängt. Immer mehr Menschen aus Pakistan, Indien und Bangladesch suchen sich einen Job in den Golfstaaten. Dabei ist der Migrationsstrom von Süd- nach Westasien mit fast fünf Millionen Menschen der größte weltweit – eine kleine Überraschung, war man doch bisher davon ausgegangen, dass die Wanderungsbewegung von Zentral- nach Nordamerika an der Spitze steht. Von 2005 bis 2010 betraf das aber „nur“ 3,2 Millionen Menschen.
Da sich diese zeitlichen Trends in statischen Grafiken nur schwierig abbilden lassen, haben die Wissenschaftler zusammen mit Programmierern aus Berlin eine interaktive Visualisierung der Daten über alle vier Zeiträume entwickelt. Auf www.global-migration.info können sowohl die Ströme zwischen Weltregionen als auch zwischen einzelnen Ländern nachvollzogen und verglichen werden – jeder, der international gewandert ist, findet sich selbst in den Daten. Er oder sie muss nur stark genug in die Grafik hinein „zoomen“, d.h. das entsprechende Land innerhalb einer Region per Mausklick herausfinden.
Nordamerika ist neben Europa nach wie vor die Hauptzielregion internationaler Migranten, wie auf der 2. Abbildung eindeutig zu erkennen ist: Aus fast allen Regionen der Welt ziehen Menschen dorthin. Gleichzeitig gibt es wenig Abwanderung, so dass Nordamerika mit gut sechs Millionen Menschen die höchste positive Wanderungsbilanz im Zeitraum 2005-10 verzeichnete. Schaut man etwas genauer hin und betrachtet statt der Weltregionen einzelne Länder im Zeitraum von 2005 bis 2010, so zeigt sich, dass der größte Wanderungsstrom mit 1,8 Millionen Menschen von Mexiko in die USA führte. Das entspricht in etwa der gesamten Bevölkerung Wiens. 1,1 Millionen Menschen, also ungefähr die Einwohnerschaft Kölns, wanderten in der gleichen Zeit von Indien in die Vereinigten Arabischen Emirate, und aus Bangladesch nach Indien kamen 600.000 Menschen.
Abb. 2:Migrationsströme zwischen 50 Ländern über den Zeitraum 2005-10. Dargestellt sind alle Ströme ab einer Mindestgröße von 70,000 Migranten. Genaue Angaben zur Größe der Ströme zeigt die interaktive Version der Grafik unter www.demografische-forschung.org sowie unter www.global-migration.info.
Verlässliche Prognosen darüber zu erstellen, wie sich die weltweite Migration in Zukunft entwickeln wird, ist fast unmöglich. Aber es gibt einige Trends, die sich auch in den nächsten Jahrzehnten fortsetzen sollten: Dazu zählt die Tendenz, dass die Migrationsströme nicht von sehr armen in sehr reiche Länder führten, sondern eher einem Stufenmodell folgten: Migranten wanderten demnach vor allem in solche Länder aus, deren Wirtschaft etwas stärker ist als die ihres Heimatlandes, sozusagen Stufe für Stufe. Ebenfalls fortsetzen wird sich aller Voraussicht nach die Konzentration von Wanderungen zwischen benachbarten Ländern bzw. Regionen. Die deutlichsten Veränderungen zeichnen sich in Asien ab, wo das Wirtschaftswachstum und der zunehmende Bedarf an Arbeitskräften dazu führen könnte, dass sich Ost- und Südostasien von Herkunftsregionen zu Zielregionen wandeln.
Die Forschungsergebnisse liefern keine Bestätigung für die oft geäußerte Sorge, dass die stark wachsende Bevölkerung in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara zu einer Massenmigration nach Europa führen wird. Die Bevölkerung wird vor allem in den Ländern südlich der Sahara wachsen, die Herkunftsländer der meisten Migranten die nach Europa kommen liegen aber nördlich der Sahara in Marokko, Tunesien und Ägypten, wo die Bevölkerung deutlich langsamer wächst. In den Ländern südlich der Sahara ist die durchschnittliche Bildung der Menschen und damit deren Einkommen so gering, dass nur die wenigsten ein Arbeitsvisum in Europa oder Nordamerika bekommen. Im Vergleich zu den Migrationsbewegungen innerhalb Afrikas und der Arbeitsmigration von Nordafrika nach Südeuropa (z.B. um als Saisonarbeiter in Spaniens Obst- und Gemüseanbau Geld zu verdienen) sind die oft tragisch endenden Flüchtlingsströme über das Mittelmeer deutlich kleiner.