Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels

Lebenserwartung: Bildungsschere wird sich weiter öffnen

2016 | Jahrgang 13 | 4. Quartal

Keywords: Lebenserwartung, Lee-Carter-Modell, Zeitreihen, Bildungsungleichheiten

Mitautor der wissenschaftlichen Studie: Frederik Peters

Wer in den Niederlanden im Jahr 2012 den 65. Geburtstag feierte, konnte sich in der Regel noch auf viele weitere Lebensjahre freuen. Denn die durchschnittliche Rest-Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren lag zu diesem Zeitpunkt bei knapp 20 Jahren. Diese zusätzlichen Lebensjahre sind in den Niederlanden aber je nach Geschlecht und Bildungsgrad sehr unterschiedlich verteilt (s. Tab.1): So hat ein 65-jähriger Niederländer ohne Schulabschluss im Schnitt nur noch 16 Jahre zu leben. Eine gleichaltrige Niederländerin mit hoher Bildung dagegen darf mit weiteren 23 Lebensjahren rechnen (Bildungsgruppen siehe Infokasten). Wie ein Blick knapp zwei Dekaden zurück zeigt, ist der Unterschied bei der Lebenserwartung der Geschlechter zwar deutlich geringer geworden. Im Jahr 1996 lebten Frauen durchschnittlich noch 4,5 Jahre länger, 2012 waren es nur noch 3,1 Jahre. Der Unterschied zwischen den Bildungsklassen hat gleichzeitig aber sowohl bei den Frauen (2,6 auf 3,3 Jahre) also auch bei den Männern (2,7 Jahre auf 3,3 Jahre) weiter zugenommen. 

Tab. 1: Die Tabelle zeigt, wie sich die Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren in den Niederlanden zwischen 1996 und 2012 entwickelt hat. Unterschieden wird nach dem Geschlecht und den unterschiedlichen Bildungsgruppen. Der Wert in Klammern gibt an, wie viel Prozent der Frauen und Männer der jeweiligen Bildungsgruppe angehören. Quelle: Statistics Netherlands (Dutch Labour Force Survey, GBA), eigene Berechnungen

Für die Sicherheit der Rentensysteme und des Gesundheitswesens sowie eine gut informierte Debatte darüber sind solche Zahlen und Unterschiede von großer Bedeutung. Schließlich lässt sich daraus ablesen, wer im Schnitt wie lange Rente beziehen und Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen wird. Da gut gebildete Ruheständler zudem meist höhere Renten beziehen als weniger gut gebildete, hat es große Auswirkungen auf die Rentenkassen, wenn sich die Bildungsschere bei der Lebenserwartung auch zukünftig weiter öffnet. 

Doch obwohl die Bildungsunterschiede hinsichtlich der Sterblichkeit in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt sind, mangelt es an Prognosen zur zukünftigen Entwicklung. Das liegt einerseits daran, dass die Datenlage hierzu in vielen Ländern nicht optimal ist. Vergleichbare Zahlen zur Lebenserwartung nach Bildungsstand für einen längeren Zeitraum liegen schlicht meist nicht vor. Andererseits gibt es in dem Feld aber auch noch keine erprobten statistischen Methoden, die es möglich machen, mit weniger guten Daten die zukünftige Lebenserwartung verschiedener Bildungsgruppen zu berechnen. Bisher wurde bei Prognosen der Ist-Zustand daher in aller Regel einfach in die Zukunft fortgeschrieben. Frederik Peters von der Universität Rostock hat nun gemeinsam mit Wissenschaftlern der Erasmus Universität Rotterdam und des Erasmus University Medical Center eine neue Methode vorgestellt, die einen genaueren Blick in die Zukunft ermöglicht. Dafür brauchen sie zunächst möglichst umfassende Daten aus der Vergangenheit: Für die Bildungsunterschiede können die Wissenschaftler auf Zahlen aus jährlich stattfindenden Arbeitsbefragungen der Niederlande (Dutch Labour Force Study; LFS) zurückgreifen, deren Informationen mit dem Sterberegister verknüpft werden können. Diese Daten bilden die Sterblichkeit nach Bildungsklassen allerdings nur für eine relativ kleine Stichprobe ab. Im Gegensatz dazu gibt es wie in den meisten anderen Ländern aber sehr umfangreiche und sehr zuverlässige Daten zum Trend in der allgemeinen Lebenserwartung für Männer und Frauen. Während die Bildungsunterschiede erst seit 1996 erfasst werden, können die Daten zur allgemeinen Sterblichkeit sehr viel weiter zurückverfolgt werden. Diese können den Wissenschaftlern als Basis dienen, mit dem die Entwicklungen in den Bildungsklassen quasi kalibriert werden können. Weil sie fast 40 Jahre zurück in die Vergangenheit gehen, kann auch der Blick in die Zukunft einen ähnlichen Zeitraum umfassen: Indem sie bewährte Modelle für die Bevölkerungsprognose kombinieren und erweitern, können die Wissenschaftler ihre Schätzungen  vom Ausgangsjahr 2012 bis ins Jahr 2042 erstrecken. Weil sie dabei vor allem das Rentensystem und die Gesundheitsleistungen im Blick haben, wählen sie nicht die Lebenserwartung ab Geburt, sondern mit 65 Jahren. Ungefähr ab diesem Alter beginnt in vielen Ländern der Ruhestand, und auch Gesundheitsdienstleistungen werden häufiger nachgefragt als in jüngeren Jahren. 

Abb. 1: In der oberen Reihe ist die bisherige und die zukünftige, geschätzte Entwicklung der Lebenserwartung bei Männer und Frauen sowie bei unterschiedlichen Bildungsgruppen der Bevölkerung eingezeichnet (a-c). Unten ist zu sehen, wie sich der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Männer und Frauen (d) bzw. zwischen den unterschiedlichen Bildungsgruppen bei Männern (e) und Frauen (f) entwickelt. Grau eingefärbt ist der Bereich der Unsicherheit in der Prognose. Quelle: Statistics Netherlands (Dutch Labour Force Survey, GBA), eigene Berechnungen

Den Berechnungen zufolge wird die Lebenserwartung mit 65 Jahren vor allem bei den gut gebildeten Männern sehr stark ansteigen. Sie wächst demnach von 19,2 Jahren im Jahr 2012 auf 22,8 Jahre im Jahr 2042 an. Bei den gering gebildeten Männern steigt sie zwar auch, aber deutlich langsamer (s. Abb. 1b und 1e). Lag der Unterschied zwischen beiden Bildungsgruppen 2012 noch bei gut drei Jahren, so könnten es der Prognose zufolge im Jahr 2042 bereits fast fünf Jahre sein. Bei den Frauen fällt der Unterschied zwischen den Bildungsgruppen zwar mit 4,5 Jahren etwas geringer aus (s. Abb. 1c und 1f). Aber auch hier geht die Schere ab 2012 um mehr als ein Jahr auseinander: Während 65-jährige Frauen mit hoher Bildung im Jahr 2042 damit rechnen können, mehr als 25 Jahre zu leben, werden den gering gebildeten Frauen nur 20,7 weitere Lebensjahre prognostiziert. Die Lebenserwartung der beiden Geschlechter wird sich indes wohl weiter annähern. Statt 3,1 Jahre (Stand 2012) wird den Frauen im Jahr 2042 nur noch eine um 2,7 Jahre längere durchschnittliche Lebensdauer prognostiziert. Damit wäre der Bildungsunterschied fast doppelt so groß wie die Geschlechterdifferenz (s. Abb. 1d). 

Gering gebildete Menschen haben allerdings nicht nur ein deutlich kürzeres Leben. Sie haben auch finanzielle Nachteile. Wenn das System der Kranken- und Rentenversicherung sich nicht ändern werde, schlussfolgern die Autoren der Studie, so würde die sich öffnende Bildungsschere in der Lebenserwartung dazu führen, dass Reichtum weiter umverteilt wird: Die gut Gebildeten würden auf Kosten der weniger Gebildeten länger von Gesundheits- und Rentenleistungen profitieren. 

Inwieweit die Situation in anderen Ländern ähnlich ist, kann mit Hilfe des vorgestellten Modells berechnet werden. Es könnte darüber hinaus auch weitere detaillierte Einblicke in die Entwicklung der durchschnittlichen Lebensdauer liefern, wie die Autoren schreiben. So wäre es etwa denkbar, auch andere Untergruppen der Bevölkerung genauer zu analysieren: Auch wenn nur eingeschränkte Daten dazu vorliegen, wäre es möglich, die zukünftige Lebenserwartung von Menschen mit unterschiedlichen Beschäftigungsarten oder etwa unterschiedlichem Body-Mass-Index abzuschätzen.

Literatur

  • van Baal, P., F. Peters, J. Mackenbach, W. Nusselder: Forecasting differences in life expectancy by education. Population Studies 70(2016)2, 201-216.
    DOI: 10.1080/00324728.2016.1159718

Aus Ausgabe 2016/4

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