Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels

Bessere Prognosen für die Lebenserwartung

2017 | Jahrgang 14 | 4. Quartal

Keywords: Ungleiche Lebenserwartung, Bohk-Rau-Modell vs. Lee- Carter -Modell

Mitautor der wissenschaftlichen Studie: Roland Rau

Man stelle sich zwei fiktive Bevölkerungen vor: In der ersten wird eine Hälfte der Menschen 60, die andere Hälfte 100 Jahre alt – im Schnitt werden die Menschen hier also 80 Jahre alt. In der anderen Bevölkerung wird das gleiche Durchschnittsalter erreicht, doch alle Menschen sterben zwischen dem 78. und 82. Lebensjahr. Obwohl die durchschnittliche Lebenserwartung also in beiden Ländern die gleiche ist, stehen zwei vollkommen unterschiedliche Szenarien dahinter. In der zweiten Bevölkerung sterben die Menschen in einem viel kürzeren Zeitraum und haben daher viel ähnlichere Lebensspannen als in der ersten. Solche Unterschiede in der Lebensspanne (s. Abb.1) gilt es auch in Prognosen zu berücksichtigen, fordern Roland Rau und Marcus Ebeling vom Rostocker Zentrum für die Erforschung des Demografischen Wandels sowie Christina Bohk-Ewald von der Universität Amsterdam. In einer neuen Studie des Fachmagazins „Demography“ untersuchen sie die Entwicklung der Lebenserwartung von Frauen in Dänemark, Japan und Italien – auch unter Berücksichtigung der Ungleichheit von Lebenserwartungen. Denn alle drei Länder haben in der Vergangenheit zwar einen relativ konstanten Anstieg der Lebenserwartung verzeichnet, unterscheiden sich gleichzeitig aber sehr stark bei der Entwicklung der Ungleichheit (s. Abb.1). 

Abb. 1:  In der Regel sinkt mit steigender Lebenserwartung die Ungleichheit bei den einzelnen Lebensspannen. Doch während die Ungleichheit in Italien mit zunehmendem Durchschnittsalter konstant gefallen ist, stieg sie in Dänemark und Japan zwischenzeitlich wieder an. Quelle: Human Mortality Database, eigene Berechnungen.

Um vorherzusagen, wie sich die durchschnittliche Lebenserwartung in der Zukunft entwickeln wird, haben Demografen in der Vergangenheit unterschiedliche Modelle erarbeitet. Als goldener Standard gilt hier noch immer das Lee-Carter-Modell aus dem Jahr 1992. Etwas vereinfacht gesagt, wird bei allen Verfahren geschaut, wie sich die Sterblichkeit über einen bestimmten Zeitraum in der Vergangenheit entwickelte. Die beobachteten Trends werden dann auf verschiedene Weisen in die Zukunft fortgeschrieben. Am Ende lässt sich daraus ein Durchschnittswert berechnen. In aller Regel ist dies die sogenannte Lebenserwartung, also die durchschnittlich zu erwartende Anzahl an Lebensjahren. Wird später untersucht, wie zuverlässig solche Prognosen waren und welche Modelle wie stark von der tatsächlichen Lebenserwartung abweichen, so wird hauptsächlich auf diesen Durchschnittswert Bezug genommen. Tatsächlich kann eine Prognose hier sehr genau zutreffen, obwohl die zugrunde liegenden Annahmen zur Sterblichkeit nicht gut mit den tatsächlichen Sterberaten übereinstimmen. Man kann sich das wie eine Durchschnittsnote vorstellen: Haben mehrere Personen dieselbe Durchschnittsnote, so kann man nicht automatisch daraus schlussfolgern, dass auch alle Einzelnoten bei allen Personen identisch sind. 

Für die Aussagekraft einer Prognose ist es aber durchaus entscheidend, wie stark die Einzelwerte beim Lebensalter um den Durchschnittswert gestreut sind. Nehmen wir unser vereinfachtes Beispiel vom Beginn, so könnten Menschen beider Bevölkerungen annehmen, sie hätten eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit, das 80. Lebensjahr zu erreichen. Tatsächlich aber wird in der Bevölkerung mit sehr unterschiedlicher Lebenserwartung die Hälfte der Menschen lediglich 60 Jahre alt und lebt damit sogar 40 Jahre weniger als die andere Hälfte; eine sehr große – hier natürlich überzeichnete – Ungleichheit, die auch in den Prognosen berücksichtigt werden sollte. 

Um eine solche Ungleichheit der Lebenserwartung zu messen, gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. Rau, Ebeling und Bohk-Ewald haben sich dafür entschieden, den Durchschnittswert der verbleibenden Lebenserwartung zum Sterbezeitpunkt zu verwenden, also die sogenannte „verlorene Lebenserwartung“. Das klingt zunächst paradox, aber dahinter steht die Vorstellung, dass auch ein Mensch, der beispielsweise erst mit 100 Jahren stirbt, noch eine positive verbleibende Lebenserwartung hat. Denn es gibt ja durchaus Menschen, die noch älter werden. Wenn man z.B. alle 100-Jährigen in Deutschland zusammennimmt, haben diese eine verbleibende Lebenserwartung von 1,8 Jahren. Ein 65-Jähriger dagegen hat noch eine durchschnittliche Lebenserwartung von weiteren 17,66 Jahren. Wenn der 65-Jährige und der 100-Jährige nun sterben, addieren sich 17.7 und 1,8 Jahre „verlorene“ Lebenserwartung. Der Mittelwert daraus wären dann 9,75 Jahre. Auf diese Weise wird aus allen Einzelwerten ein Durchschnittswert ermittelt. Je höher dieser ist, desto größer ist die Ungleichheit bei der Lebenserwartung (vgl. Abb. 1). 

In der vorliegenden Studie im Fachmagazin „Demography“ untersuchen die Wissenschaftler nun, inwieweit gängige Prognosemodelle nicht nur die durchschnittliche Lebenserwartung, sondern auch die Ungleichheit in den Lebensspannen gut schätzen können. Neben dem erwähnten Lee-Carter-Modell und der neueren Variante von Li und Lee, überprüfen sie auch ein eigenes Modell, welches sie in den letzten Jahren entwickelt hatten, aber eigentlich ohne den Hintergedanken, die Ungleichheiten im Sterbealter zu berücksichtigen. 

Abb. 2: Während alle Modelle die Entwicklung der Lebenserwartung in Japan, Dänemark und Italien (oben) sehr gut prognostizieren, gibt es bei der Entwicklung der Ungleichheit (unten) große Unterschiede. In Japan und Dänemark, wo sich die Ungleichheit der Lebensspannen wechselhaft entwickelte, liegt das Bohk-Rau-Modell im Vergleich mit den konventionellen Modellen weitaus dichter an der tatsächlichen Entwicklung. Quelle: Mortality Database, eigene Berechnungen.

Am Beispiel der Lebenserwartung dänischer, japanischer und italienischer Frauen (s. Abb.2) vergleichen die Demografen nun klassische Modelle mit dem eigenen. Gefüttert werden diese Modelle mit den Daten, die angeben, wie die Sterblichkeit der Frauen in den Jahren 1965 bis 1990 war. Daraus errechnen sie schließlich, wie sich die Sterblichkeit und damit auch die Lebenserwartung in der Zeit von 1991 und 2009 entwickeln wird – eine Vorhersage, die anhand der tatsächlichen Daten bereits überprüft werden kann. 

Dabei zeigt sich, dass sowohl die beiden Varianten des klassischen Lee-Carter-Modells als auch das Bohk-Rau- Modell die Entwicklung der durchschnittlichen Lebenserwartung in allen drei untersuchten Ländern relativ genau prognostizieren, wobei das Bohk-Rau-Modell bis auf die Ausnahme Dänemarks einen Tick genauer ist als die Lee- Carter-Modelle. Noch deutlicher zeigen sich die Vorteile des Modells bei der prognostizierten Entwicklung der Ungleichheit. Die wird vom Bohk-Rau-Modell auch bei verschiedenen Referenzperioden grundsätzlich besser modelliert als von den anderen beiden klassischen Modellen. Dass sich der Rückgang der Ungleichheit in Japan etwa ab 1990 extrem verlangsamt, wird von den beiden klassischen Modellen ebensowenig abgebildet, wie der sehr starke Rückgang der Ungleichheit in Dänemark (s. Abb. 2). 

Gute Ergebnisse bei der Vorhersage der durchschnittlichen Lebenserwartung dürften daher nicht mehr als alleiniger Maßstab für die Qualität eines Modells gelten, schreiben die Autoren. „Stellen Sie sich vor, sie hätten für vier Personen einen Kuchen mit zwölf Stücken“, versucht Roland Rau dies zu illustrieren: „Im Durchschnitt erhält jede Person garantiert drei Stücke. Aber ob nun jeder drei Stücke erhält oder aber vielleicht einer neun Stücke und die anderen jeweils nur ein Stück, lässt sich aus dem Durchschnittswert nicht ablesen. Im echten Leben ist dies jedoch durchaus von großer Relevanz.“ Daher wünschen die Autoren, dass zukünftig die Qualität von Modellen in der Sterblichkeitsforschung auch anhand der prognostizierten Ungleichheit bei der Lebenserwartung gemessen wird. Denn ob und wie die Lebenserwartung zukünftig weiter steigen wird, hängt vor allem davon ab, wie stark die Sterblichkeit in den höchsten Altersstufen gesenkt werden kann. Dabei ist durchaus offen, ob nur einzelne Schichten oder die breite Masse von solchen Rückgängen der Sterblichkeit profitieren. Prognosemodelle sollten allerdings in der Lage sein, möglichst viele verschiedene Arten von daraus entstehenden Ungleichheiten abzubilden.

Literatur

  • Bohk-Ewald, C., M. Ebeling and R. Rau: Lifespan disparity as an additional indicator for evaluating mortality forecasts. Demography 54(2017)4, 1559-1577.
    DOI: 10.1007/s13524-017-0584-0

Aus Ausgabe 2017/4

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