ISSN 1613-8856

Vienna Institute of Demography

Fehlalarm

2020 | Jahrgang 17 | 1. Quartal

Keywords: Lebenserwartung, Kohorteneffekte, Heterogenität, Harvesting-Effekt, Tempo-Effekte

Mitautor der wissenschaftlichen Studie: Marc Luy

Die periodische Lebenserwartung (PLE) ist einer der wichtigsten Indikatoren dafür, wie es um die Gesundheit in einem Land bestellt ist. Verstanden wird sie als die durchschnittliche Anzahl an Lebensjahren, die ein Neugeborenes vor sich hat – unter dem hypothetischen Szenario, dass die Sterberaten des aktuellen Jahres für jedes Alter in der Zukunft konstant bleiben. Sinkt die PLE, wird das daher als Alarmzeichen dafür gewertet, dass sich die Gesundheitsbedingungen in einer Bevölkerung verschlechtern. 

Tatsächlich aber lohnt es sich, die Berechnung der PLE und ihre Einflussfaktoren einmal genauer zu betrachten, wie Marc Luy, Paola Di Giulio, Vanessa Di Lego, Patrick Lazarevič und Markus Sauerberg vom Vienna Institute of Demography im Fachmagazin „Gerontology“ deutlich machen. Sie zeigen, dass der viel diskutierte Rückgang der Lebenserwartung im Jahr 2015 nicht unbedingt als Alarmzeichen gewertet werden muss. Denn es gebe mindestens drei Effekte, welche die PLE beeinflussen könnten und dennoch nicht unbedingt etwas über die aktuellen Gesundheitsverhältnisse aussagten, schreiben Luy und Kollegen. Das sind Kohorten-, Heterogenitäts- und Tempoeffekte. 

Kohorteneffekte etwa treten immer dann auf, wenn die heutige Gesundheit eines oder mehrerer Geburtsjahrgänge durch frühere Ereignisse beeinflusst wird, wie z.B. Mangelernährung, einen hohen Anteil von Rauchern oder bestimmte Krankheitswellen. Wenn etwa verhältnismäßig viele Kinder eines Geburtsjahrganges bereits früh an Infektionskrankheiten verstorben sind, dann hat diese Generation im höheren Alter meist eine niedrigere Sterblichkeit – schlichtweg, weil Menschen mit schwächerer Gesundheit schon vorher verstorben sind. „Später Ernteeffekt“ wird eine solche Entwicklung genannt, die auch über kürzere Zeiträume auftreten kann. So gibt es nach einem harten Winter mit hoher Sterblichkeit im darauffolgenden Sommer bei Hitzewellen oft weniger Sterbefälle.

Ebenfalls verzerrend wirken können sogenannte Heterogenitätseffekte: Ändert sich die Zusammensetzung einer Bevölkerung stark, so ändern sich oft auch die Anteile der Gruppen mit hohem oder niedrigem Sterberisiko. Zum Beispiel sind große Teile des Anstiegs der Lebenserwartung in vielen westlichen Ländern auf ein zunehmendes Bildungsniveau in der Bevölkerung und ein damit zusammenhängendes niedrigeres Sterberisiko zurückzuführen. Zu guter Letzt gibt es auch Tempoeffekte, die statistischer Natur sind und vor allem dann auftreten, wenn sich die Lebenserwartung während der Beobachtungsperiode stark verändert. 

Entwicklung der Lebenserwartung bei unterschiedlichen Berechnungsmethoden

Abb.1: Betrachtet man alternative Messungen der Lebenserwartung, die nicht durch Tempo-Effekte verzerrt sind, dann zeigt sich kein Rückgang im Jahr 2015, sondern sogar ein weiterer Anstieg. Die Lebenserwartung in Deutschland wurde in der Studie nicht untersucht, weil man in diesem Fall andere Methoden und Daten hätte verwenden müssen. Aber auch in Deutschland ist die PLE im Jahr 2015 zwischenzeitlich gesunken. Quelle: Human Mortality Database 2009-2015, eigene Berechnungen 

Je nachdem, ob man diese verschiedenen Effekte berücksichtigt oder nicht, kann man bei einer Analyse der Lebenserwartung zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen (s. Abb. 1). Als 2015 die PLE in vielen europäischen Ländern zurückging, wurden hierfür meist nur länderspezifische Gründe gefunden, zum Beispiel eine geringe Impfrate gegen Grippe in Italien oder Einschnitte im Gesundheitssystem im Vereinigten Königreich. Tatsächlich aber ging die Lebenserwartung in allen Ländern simultan zurück, so dass auch die Gründe länder übergreifend zu suchen sind. Luy und seine Kollegen gehen davon aus, dass hier vor allem „Ernte-“ und „Tempoeffekte“ eine Rolle gespielt haben. Denn vor dem Rückgang der PLE im Jahr 2015 gab es einen ungleich stärkeren Anstieg im Jahr 2014 (s. Abb.1). Die niedrige Sterblichkeit im Jahr 2014, die hauptsächlich aus einem ungewöhnlich milden Influenza-Typ im Winter 2013/14 resultierte, führte zu einer hohen Zahl von Überlebenden. Diese Zunahme der Überlebenden – und die damit verbundene Verringerung der Todesfälle – senkt nicht nur die Sterblichkeitsrate des Jahres, sondern vergrößert den Pool potenzieller Todesfälle in den nächsten Jahren, schreiben Luy und Kollegen. So wie im Jahr 2015. Der Rückgang der Lebenserwartung (PLE) im Jahr 2015 sei daher kein Anlass zu großer Sorge, sondern teils durch verzerrende Effekte zustande gekommen, schreiben die Autoren. Tatsächlich stieg die PLE im Jahr 2016 auch wieder in allen europäischen Ländern an, in denen sie 2015 gesunken war.

Literatur

  • Luy, M., P. Di Giulio, V. Di Lego, P. Lazarevič and M. Sauerberg: Life expectancy: frequently used, but hardly understood. Gerontology 66(2020)1, 95-104.
    DOI: 10.1159/000500955

Aus Ausgabe 2020/1

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