ISSN 1613-8856

Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital

Der richtige Zeitpunkt für ein Kind

2024 | Jahrgang 21 | 2. Quartal

Keywords: Aufschub der Fruchtbarkeit, Europa, Mütterliches Alter, Soziale Altersnorm, Väterliches Alter

WISSENSCHAFTLICHE ANSPRECHPARTNERIN: Ester Lazzari

Männer und Frauen bekommen immer später ihr erstes Kind. Dies ist ein Trend, der seit den 1980er Jahren in vielen europäischen Ländern beobachtet wird, wobei das Ausmaß der Verschiebung variiert. So ist zum Beispiel der Anteil der Menschen, die im Alter von 35 Jahren oder älter ihr erstes Kind bekommen, in Südeuropa relativ hoch, während es in den mittel- und osteuropäischen Ländern nach wie vor deutlich weniger Spätgebärende gibt. Ob und wann Frauen sich dafür entscheiden, ein Kind zu bekommen, hängt zum Teil mit den äußeren Rahmenbedingungen zusammen. Gesellschaftliche Normen spielen aber auch eine Rolle bei der Entscheidung. Solch eine Norm ist zum Beispiel das Alter, das als angemessen angesehen wird, um Kinder zu bekommen. Diese Norm wurde schon zum Thema einiger Studien gemacht. In ihnen wurde untersucht, was Einzelpersonen zu einem bestimmten Zeitpunkt als das richtige Alter empfinden. Allerdings ist davon auszugehen, dass sich diese Norm, wie andere gesellschaftliche Normen auch, mit der Zeit verändert. Und genau das wurde bisher nicht untersucht. 

Wahrgenommenes optimales und maximales Alter von Frauen und Männern bei Geburt des ersten Kindes

Abb. 1: Rollenbilder verändern sich: Mehr Menschen gaben im zweiten Befragungszeitraum an, dass es ein maximales Alter fürs Vaterwerden gibt. Dies könnte daran liegen, dass die Väter weniger als Erzeuger gesehen werden und ihnen eine Rolle in der Betreuung und Erziehung zugesprochen wird. Quelle: European Social Survey, eigene Berechnungen.

Diese Lücke hat nun ein Forschungsteam um Ester Lazzari vom Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital geschlossen. Die Annahme der Forscherinnen: Gesellschaftliche Erwartungen an das „richtige“ Alter, um Eltern zu werden, spielen eine Rolle bei der Entscheidung, zu welchem Zeitpunkt die Familie gegründet wird. Die Forscherinnen stellten sich die Frage, ob angesichts des zunehmenden Anteils von Geburten im fortgeschrittenen reproduktiven Alter die Haltung gegenüber dem Zeitpunkt der Geburt des ersten Kindes weniger streng geworden ist. Anders gefragt: Nimmt der Konsens über die Existenz eines optimalen Alters für die Geburt von Kindern ab, weil das Altersspektrum, in dem Frauen das erste Kind bekommen, größer wird? Die Forscherinnen haben auch untersucht, ob es hierbei Geschlechtsunterschiede gibt und ob sich die Normvorstellungen für beide Geschlechtern in Richtung eines höheren Alters verschoben haben. Außerdem wollten sie herausfinden, was als das optimale „Reproduktionsfenster“ angesehen wird. Gemeint ist damit der Alterszeitraum zwischen dem wahrgenommen idealen Zeitpunkt für die erste Geburt bis zum wahrgenommenen maximalen Alter, um Eltern zu werden. 

Die Wissenschaftlerinnen nutzten für ihre Untersuchungen Daten aus dem European Social Survey, eine alle zwei Jahre durchgeführte Querschnittsumfrage, bei der Menschen zu ihren Einstellungen und Verhaltensweisen befragt werden. Sie verglichen die Daten aus 21 Ländern, und zwar aus den Umfragezeiträumen 2006–2007 und 2018–2019. 

Die Analyse ergab, dass gesellschaftliche Erwartungen hinsichtlich des geeigneten Alters für die Geburt eines Kindes weiterhin relevant sind. Die Wissenschaftlerinnen fanden heraus, dass durchweg ein Anteil von über 75 Prozent der Menschen in allen Ländern der Meinung ist, dass es ein richtiges Alter fürs Elternwerden gibt. Dieser Anteil veränderte sich über die Jahre hinweg nicht. 

Die Forscherinnen beobachteten, dass sich die als akzeptabel wahrgenommene Altersgrenze sowohl für Frauen als auch für Männer nach oben verschiebt. Gleichzeitig nähern sich diese Altersgrenzen für beide Geschlechter an. Diese Annäherung kommt dadurch zustande, dass im Laufe der Zeit immer mehr Menschen auch für Männer eine obere Altersgrenze für den Beginn der Vaterschaft wahrnehmen. Grund für diese Veränderung könnte sein, dass die Vaterrolle heute anderes definiert wird und der Vater weniger nur als Erzeuger gesehen wird, sondern ihm eine Rolle in der Betreuung und Erziehung zugesprochen wird. 

Was das ideale oder maximale Alter für den Beginn der Vater- beziehungsweise Mutterschaft angeht, fanden die Forscherinnen keine Annäherung zwischen den beiden Geschlechtern. Die Altersspanne vergrößerte sich sowohl bei Männern als auch bei Frauen nach oben, ein Zeichen dafür, dass die Gesellschaft insgesamt eine spätere Elternschaft akzeptiert. Das als ideal wahrgenommene Alter für die Geburt des ersten Kindes liegt aber immer noch deutlich unter dem Alter, in dem Menschen tatsächlich Kinder bekommen. Daraus schließen die Forscherinnen, dass die in Europa beobachtete deutliche Verzögerung der Familiengründung nicht allein auf veränderte gesellschaftliche Präferenzen hinsichtlich des Zeitpunkts der Geburt eines Kindes zurückzuführen ist. Die Forscherinnen vermuten, dass strukturelle Hindernisse, etwa der fehlende Ausbau von Kinderbetreuung, dazu führt, dass Menschen zu einem Zeitpunkt im Leben ihre Kinder bekommen, der deutlich später ist als der Zeitpunkt, den sie als ideal definieren.

Literatur

  • Lazzari, E., M.-C. Compans and E. Beaujouan: Change in the perceived reproductive age window and delayed fertility in Europe. Population Studies [First published online: 01 March 2024].
    DOI: 10.1080/00324728.2023.2298678

Aus Ausgabe 2024/2

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