Verluste an Lebenserwartung (in Jahren)
Abb.1: Räumliche Verteilung der Verluste an Lebenserwartung für beide Geschlechter zusammen. Quelle: Berechnungen der Autor*innen basierend auf Daten der Statistikämter der jeweiligen Länder.
Während der COVID-19-Pandemie hat uns tagtäglich die Bekanntgabe der Neuinfektionen begleitet. Doch wie viele Menschen mehr gestorben sind, als es der Fall gewesen wäre, wenn die Pandemie – hypothetisch – nicht gewesen wäre, ist nicht einfach zu berechnen. Außerdem war es bisher schwierig, diese Übersterblichkeit international, zwischen Regionen und Ländern, zu vergleichen, da für die Berechnung unterschiedliche methodische Ansätze und Indikatoren zum Einsatz kamen. Ein Forschungsteam um Pavel Grigoriev vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) hat nun diese Übersterblichkeit, die sogenannten Verluste an Lebenserwartung, für 569 Regionen in 25 Ländern Europas berechnet. Dafür schätzten die Forschenden auf Basis zurückliegender Entwicklungen, wie sich die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt ohne Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 entwickelt hätte. Diese Werte haben sie dann mit der tatsächlich gemessenen Lebenserwartung verglichen – mit überraschenden Ergebnissen: Während es in einigen Regionen zu einer starken Übersterblichkeit kam, blieb die Sterblichkeit in manchen Gebieten nahezu unverändert. Im ersten Pandemiejahr registrierten die Forschenden eine hohe Übersterblichkeit hauptsächlich in Norditalien, der Südschweiz, Zentralspanien und Polen. Gerade am Beispiel Italiens belegt die Studie, wie stark regionale Unterschiede in manchen Ländern waren: So hatten Regionen wie Bergamo und Cremona 2020 bei der Lebenserwartung eine Übersterblichkeit von knapp über vier Jahren. In einigen süditalienischen Provinzen war hingegen keine erhöhte Sterblichkeit messbar. In Teilen Nord- und Westdeutschlands, Dänemarks, West- und Südfrankreichs, Norwegens und Schwedens war 2020 sogar eine Untersterblichkeit zu verzeichnen. Es starben dort also weniger Menschen, als es ohne Pandemie prognostiziert wurde.
Im Laufe der Zeit änderten sich die Muster der Übersterblichkeit. Während im ersten Pandemiejahr 362 Regionen eine signifikante Übersterblichkeit verzeichneten, waren es im Folgejahr sogar 440. Aus regionaler Sicht verlagerte sich die Übersterblichkeit 2021 stark nach Osteuropa und betraf Männer stärker als Frauen. In der Slowakei, Litauen, Lettland, Ungarn sowie in Teilen Polens und Tschechiens lag die Lebenserwartung um mehr als 2,5 Jahre unter dem erwarteten Wert. Im Vergleich zu Osteuropa zeigten viele westeuropäische Regionen im Jahr 2021 eine geringere Übersterblichkeit, wenngleich diese auch dort überwiegend höher war als noch im Vorjahr. Auch innerhalb Deutschlands war 2021 ein beträchtliches Ost-West-Gefälle sichtbar. So betrug die Übersterblichkeit in Thüringen, im Süden und Osten von Sachsen sowie im Süden von Sachsen-Anhalt und Brandenburg 1,5 bis 2 Jahre. Im früheren Bundesgebiet lag sie – mit Ausnahme einiger bayerischer Gebiete – unter einem Jahr. Die Untersuchung zeigte zudem, dass die Pandemie zunächst städtische Gebiete mit hoher internationaler Vernetzung betroffen hat. Von dort breitete sie sich dann in weniger vernetzte und peripherere Gebiete aus.
Zu der Studie gibt es eine Online-Applikation mit weiteren Details: histdemo.shinyapps.io