Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels

Unheilbar Kranke werden nicht gleich gut versorgt

2025 | Jahrgang 22 | 4. Quartal

Keywords: Demenz, Lebensende, Maschinelles Lernen, Palliativpflege, Vorhersagen

Wissenschaftliche Ansprechpartnerin: Elena Rakuša

Wenn man über Palliativmedizin spricht, denkt man an das Ende des Lebens. Das ist aber falsch. Eigentlich ist Palliativpflege nicht nur für die letzte Lebensphase gedacht. Sie kann bereits ab der Diagnose einer fortschreitenden, nicht heilbaren Erkrankung begonnen werden. Erkrankte Menschen können ambulant oder stationär versorgt werden. Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin definiert die Aufgabe der Palliativmedizin folgendermaßen: „Die Palliativmedizin widmet sich der Behandlung und Begleitung von Patient*innen mit einer nicht heilbaren, progredienten und weit fortgeschrittenen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung sowie der Begleitung ihrer Angehörigen.“ Laut Bundesgesundheitsministerium ist außerdem „die medizinische und pflegerische Versorgung Sterbender Teil der Regelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung“. 

Per Definition ist die Palliativpflege nicht auf eine Krankheit festgelegt – in Deutschland machen aber Krebspatient*innen den größten Anteil der Palliativpatient*innen aus, so das Ergebnis einer Studie von Elena Rakuša, Wissenschaftlerin am Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels. Grund dafür sind die hier angewandten sogenannten evidenzbasierten medizinischen Leitlinien. Diese Leitlinien sollen den Arzt oder die Ärztin bei der Behandlung von Patient*innen unterstützen. Sie werden auf Grundlage von medizinischen Studien von Expert*innen aus verschiedenen Fachbereichen entwickelt und dienen als Qualitätsstandard und Entscheidungshilfe für Empfehlungen zur Diagnostik und Therapieformen. Im Einzelfall kann eine Leitlinie keinen konkreten Therapievorschlag unterbreiten. 

Die Aussagekraft ist in Evidenzklassen eingeteilt. Diese Leitlinien werden in der Regel von den medizinischen Fachgesellschaften unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) entwickelt. Die Leitlinien sind in Klassen eingeteilt, S1 bis S3, wobei S3 die „höchste“ Klasse ist. S3-Leitlinien sind evidenzbasiert und wurden von einem interdisziplinären Gremium entwickelt. Der Einsatz von Palliativmedizin ist in diesen S3-Leitlinien für Demenz nicht enthalten. Das heißt nicht, dass der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin den Einsatz von Palliativmedizin nicht auch für andere Krankheiten empfehlen oder verordnen kann. Überwiegend halten sich Ärzt*innen an die Leitlinien, was in den meisten Fällen richtig und sinnvoll ist. In ihrer Studie, die in „BMC Palliative Care“ veröffentlicht wurde, hat Elena Rakuša untersucht, welche Faktoren wichtig für die Vorhersage einer Palliativversorgung sind. Im Anschluss daran hat sie untersucht, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, eine Palliativversorgung zu erhalten. Unter den wichtigsten Prädikatoren war, wenig überraschend, Krebs (wie zu erwarten aufgrund der Leitlinien) und überraschenderweise auch Demenz. An sich ist Demenz eine Krankheit, die alle Kriterien für eine palliative Versorgung erfüllt: Es ist ein unheilbarer, fortschreitender Prozess, in dem Patient*innen nach und nach die Fähigkeit verlieren, den Alltag zu meistern und selbstständig ihr Leben zu führen. Menschen, die an Demenz erkranken, brauchen häufig Hilfe und Pflege und sterben im Schnitt früher als Menschen, die nicht an Demenz erkrankt sind. Die Zahl der Demenzerkrankten in Deutschland steigt, viele werden von Angehörigen gepflegt, was für diese eine enorme Belastung darstellt. 

Für ihre Studie hat die Wissenschaftlerin Daten der größten deutschen Krankenversicherung, der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK), genutzt. Basis waren Daten von 250.000 Menschen, die 50 Jahre und älter waren. Aus diesem Datensatz untersuchte die Wissenschaftlerin die Daten derjenigen Menschen, die im Untersuchungszeitraum verstarben, um feststellen zu können, ob sie am Ende ihres Lebens palliativ versorgt wurden. Um vergleichen zu können, inwieweit Menschen, die an Krebs erkranken, anders versorgt werden als Menschen mit Demenz, unterschied sie vier Gruppen: diejenigen, die an Demenz erkrankt sind (circa ein Drittel), diejenigen, die an Krebs erkrankt sind (circa ein Viertel), diejenigen, die an Demenz und Krebs erkrankt sind, und diejenigen, bei denen weder die eine noch die andere Krankheit diagnostiziert wurde, was auf fast die Hälfte der Menschen in dem Datensatz zutraf. Sie untersuchte dann, ob die Palliativpflege ambulant oder stationär erfolgte, wobei die ambulante Versorgung sowohl zu Hause als auch im Heim erfolgen kann. Die stationäre Versorgung kann ebenfalls an unterschiedlichen Orten stattfinden, nämlich in Krankenhäusern, auf Palliativstationen oder in Pflegeheimen, wenn diese dafür ausgelegt sind. 

Die Analyse legt nahe, dass Demenz-Patient*innen eine deutlich geringere Wahrscheinlichkeit als Krebs-Patient*innen haben, palliativ versorgt zu werden. Demenzpatient*innen mit bereits bestehender ambulanter Palliativversorgung haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, auch stationäre Palliativversorgung zu erhalten. Das kann daran liegen, dass bei diesen Patient*innen die Versorgungsangebote außerhalb der Palliativversorgung ausgeschöpft sind, sodass die Pflege nur noch im stationären Bereich möglich ist. Die Wissenschaftlerin stellte außerdem fest, dass Frauen häufiger palliativ versorgt werden als Männer. Dies deute nicht unbedingt auf eine bessere Versorgung der Frauen hin, sondern es sei möglicherweise ein Hinweis darauf, dass Frauen im Alter weniger soziale Unterstützung erhalten als Männer. Die Wissenschaftlerin richtet den Appell an die Politik und Fachgesellschaften, sich mit diesen Fragen eingehender zu beschäftigen und gegebenenfalls die Richtlinien anzupassen, um auch Demenzpatient*innen Zugang zu Palliativpflege zu ermöglichen.

Literatur

  • Rakuša, E., C. Reinke, G. Doblhammer, L. Rad- bruch, M. Schmid and T. Welchowski: Dementia as a predictor of palliative care: uncovering patient patterns based on German claims data. BMC Palliative Care 24(2025)46, 1–13.
    DOI: 10.1186/s12904-025-01672-y

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Aus Ausgabe 2025/4

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