Vor dem Hintergrund der aktuellen öffentlichen Debatte um den (ausbleibenden) Kinderwunsch und die geringen Kinderzahlen in Deutschland ist es von besonderem Interesse, sich die bestehenden Unterschiede in den Familienformen zwischen Ost und West genauer anzuschauen. Beispielsweise sind ostdeutsche Frauen weiterhin etwas jünger und deutlich seltener verheiratet als westdeutsche, wenn sie ihr erstes Kind bekommen, und die Anteile der Kinderlosen sind niedriger – trotz der offenkundig schwierigeren ökonomischen Bedingungen im Osten. Dafür ist der Übergang zu einem zweiten Kind in Ostdeutschland erschwert (siehe Tabelle 1, vgl. Demografische Forschung Aus Erster Hand 2/2005). Die Unabhängige Forschungsgruppe „Kultur der Reproduktion“ des MPIDF hat sich das Ziel gesetzt, die Ursachen dieser Phänomene aus der Sicht der „Beteiligten“ selbst zu erkunden. Die Grundfragen, der die Rostocker Forscher dabei nachgehen, sind: Gibt es typische Muster in den persönlichen Überzeugungen junger Erwachsener, die erklären, warum Familiengründungen in Ost und West so unterschiedlich stark aufgeschoben bzw. aufgegeben werden? Wie wirken sich Austausch und Beobachtungen im eigenen Netz sozialer Beziehungen auf Familienwünsche und -pläne aus?
Tab. 1: Ausgewählte sozio-demografische Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland: Quellen: Economic Council of Europe 2003, Kreyenfeld 2005, Statistisches Bundesamt 2006.
Zur Analyse konnten junge Erwachsene des Geburtsjahrganges 1975 (+/-1 Jahr) aus Ost (Rostock) und West (Lübeck) gewonnen werden, mit denen persönliche Interviews über ihren Lebenslauf seit der Schulzeit geführt wurden. Hinzu kamen Interviews mit Freunden, Partnern oder Eltern des Zieljahrgangs, so dass sich ein Gesamtbild der Lebenssituation junger Leute in ihrer Stadt ergibt; insgesamt wurden etwa 150 Interviews geführt.
Deutlich zeigen sich Unterschiede zwischen Ost und West in den Vorstellungen zum Zusammenhang von beruflicher Entwicklung und Familienplanung. Diese sind so gravierend, dass sie als zwei „kulturelle Modelle“ der Familienplanung bezeichnet werden können (siehe Abbildung 1). Bei jungen Westdeutschen ist das dominante Modell eines von beruflicher Geradlinigkeit und sorgfältiger Planung. Im so genannten sequenziellen Modell stehen die erfolgreiche Berufslaufbahn sowie die sich daraus herleitenden Werte von materieller Absicherung und Erfolg im Mittelpunkt der biografischen Planung. Ein Kinderwunsch schließt sich meist erst daran an, d.h. eine Familiengründung wird vor einer erfolgreichen beruflichen Etablierung nicht in Erwägung gezogen (Sequenz). Hierbei steht zudem die berufliche Etablierung des Mannes im Vordergrund, der weiterhin als Haupternährer einer möglichen Familie angesehen wird.Außerdem ist das Bewusstsein, dass eine Familiengründung durchaus auch den beruflichen und materiellen Status bedrohen kann, in Lübeck weit verbreitet.
Abb. 1: Das parallele und das sequenzielle Modell der Familienplanung in West- und Ostdeutschland.
Aus den Interviews mit jungen Erwachsenen aus Ostdeutschland ergibt sich ein anderes kulturelles Leitbild: das so genannte parallele Modell. Den Rostockern ist der Gedanke, vor einer Familiengründung einen hohen beruflichen und materiellen Status zwingend erreicht zu haben, eher fremd. Vielmehr ist es ihnen wichtig, dass beide Partner in einer ausbalancierten Form arbeitstätig sind. Unter einer „Balance“ verstehen die jungen Ostdeutschen insbesondere einen Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit, aber auch zwischen der jeweiligen Arbeitsbelastung der Partner. Die Bereitschaft, auch berufliche Einschnitte zugunsten dieses Ausgleichs hinzunehmen, wird häufig betont, zum Beispiel wenn ein starker Familienwunsch vorliegt (Wechselwirkung). Prinzipiell werden Mann und Frau als gleichwertige und gleich verpflichtete Partner für das Familieneinkommen angesehen.Wenn die „Balance“ erreicht ist, gibt es für die Rostocker kaum noch ein Hemmnis für eine Familiengründung. So finden sich – im Gegensatz zu Lübeck – häufig Berichte von Familienplänen und -gründungen vor oder während des Berufseinstiegs, während einer Existenzgründung oder einfach „ohne groß zu planen“.
Durch dieses Forschungsergebnis wird klar, warum das erste Kind in Ostdeutschland relativ früh, ein zweites – wenn überhaupt – vergleichsweise spät geboren wird und warum im Gegenzug der Anteil der Kinderlosen, aber auch jener der Zwei- und Mehrkindfamilien in Westdeutschland ungleich höher ist. Sobald nämlich im sequenziellen Modell in Westdeutschland die Voraussetzungen für eine Familiengründung erfüllt sind, steht einer Geburt von zwei oder mehr Kindern kaum etwas im Wege. Im parallelen Modell Ostdeutscher muss die angestrebte Ausbalanciertheit der Arbeit-Freizeit-Partner-Konstellation stets neu hergestellt und bewertet werden, welche sich nach einem ersten Kind sicherlich nicht leichter einstellt.
Vermutlich stehen hinter diesem deutlichen Unterschied in den biografischen Modellen verschiedene Sozialisationserfahrungen junger Erwachsener. Sind die Lübecker in einer Zeit aufgewachsen, als das planerische Ideal des „erfolgreichen Lebenslaufs“, das auf der unbefristeten Vollzeitstelle des männlichen Haupternährers beruhte, in Westdeutschland seinen Höhepunkt erlebte, war es für die Rostocker zur gleichen Zeit die Erfahrung des problemlosen In-Einklang-Bringens von zwei berufstätigen (jungen) Eltern und Kindern in der DDR. Wie diese Modelle in der heutigen wirtschaftlichen Situation, die unter anderem durch hohe Arbeitslosigkeit sowie die Zunahme flexibler und prekärer Beschäftigungsverhältnisse gekennzeichnet ist, zu bewerten sind, muss die Forschung freilich offenlassen.
Der zweite Teil der Analyse beschäftigt sich mit den sozialen Netzwerken junger Erwachsener. Hier geht es vor allem um die Frage, ob und wie sich die biografischen Orientierungen in der alltäglichen Kommunikation, in Beobachtungen von Bekannten und Freunden oder in persönlichen Vorbildern wiederfinden. Es zeigt sich, dass insbesondere gute Freunde für junge Erwachsene eine sehr wichtige Rolle spielen, wenn es um das Ob und Wann der eigenen Familiengründung geht – womöglich eine wichtigere Rolle als die eigenen Eltern. Besonders zwei übergreifende Interaktionsmuster zum Thema „Kinder“ zwischen guten Freunden ließen sich darstellen: 1) Allianzen zwischen Freunden und 2) Beobachtung der Erfahrungen von Freunden mit Elternschaft.
Das erste Muster (Allianz) verdeutlicht, wie wichtig es für junge Erwachsene sein kann, Freunde mit einer ähnlichen Einstellung zu haben. So fanden wir Freunde, die sich trotz widriger Umstände beständig darin unterstützen, den Kinderwunsch wichtig zu nehmen und aufrechtzuerhalten. Bei anderen wurde sogar genau über Termine „beratschlagt“ („wenn ich mein zweites Kind bekomme, und du dein erstes, dann könnten wir …“). Genauso wichtig ist es aber auch für jene 30-Jährigen, die das Thema (noch) aufschieben, ebensolche Freunde zu haben, mit denen man unbeschwert Fernreisen unternehmen oder an seiner Karriere arbeiten kann, statt an Familienplanung zu denken.
Umgekehrt ist oft die erste Elternschaft eines Freundes oder einer Freundin für den ganzen Freundeskreis ein wichtiger Prüfstein eigener Einstellungen (Muster 2: Beobachtung): Wie erlebt man den Freund oder die Freundin als Vater bzw. Mutter? Was behagt oder missfällt einem am Familienleben des Freundes/der Freundin? Was schlussfolgert man für seine eigenen Pläne daraus? Nicht selten entscheiden die Antworten auf diese Fragen auch über den weiteren Verlauf einer Freundschaft.
In diesen Interaktionsmustern finden sich zunächst keine Unterschiede zwischen jungen Erwachsenen in Ost- und Westdeutschland. Allerdings werden in Rostock deutlich weniger Personen als „wichtige Netzwerkpartner“ genannt als in Lübeck. Außerdem stehen diese in einem durchschnittlich etwas distanzierteren Verhältnis zur eigenen Person, als es bei den Lübeckern der Fall ist. Dies resultiert sicherlich aus dem in Rostock allgegenwärtigen „Friend-Drain“, also dem Wegzug von Freunden und deren Abwanderung in den Westen. Die starke Migrationsneigung in Ostdeutschland ist zwar bereits aus der Bevölkerungsstatistik bekannt; hier kann jedoch erstmals in persönlichen Interviews gezeigt werden, wie sich diese auch auf der Ebene biografischer Familienmodelle und persönlicher Netzwerkstrukturen niederschlägt. Es ist somit auch denkbar, dass das Ausdünnen enger Freundschaftsnetzwerke durch die starke Auswanderung aus Ostdeutschland bestimmte Interaktionserfahrungen junger Leute hinsichtlich der Familiengründung verändert und dadurch letztlich auch die Fortführung tradierter kultureller Modelle erschweren wird.