Schon seit der Aufklärung wird “Osteuropa” als regionales Konzept wahrgenommen – insbesondere von westlichen Eliten. Damit einhergehend wurden politische, ökonomische und kulturelle Unterschiede zwischen Ost- und Westeuropa festgemacht. Die geopolitischen Realitäten des Kalten Krieges verstärkten die Wahrnehmung eines zweigeteilten Europas – auch über das Wendejahr 1989 hinaus.
Die Ost-West-Dichotomie fand sich auch in wissenschaftlichen Positionen. So beschrieb etwa John Hajnal in den 1970er Jahren unterschiedliche Familien- und Heiratssysteme. Er kontrastierte ein nordwesteuropäisches System, in dem Haushalte mit Kernfamilien als ökonomisch unabhängige Einheiten vorherrschten, mit einem südosteuropäischen System, das durch Mehrgenerationenfamilien gekennzeichnet war. Gerade das slawische Osteuropa wurde als das Gebiet der Großhaushalte und zusammengesetzten Familien par excellence beschrieben, das in seiner Großfamilienorganisation der russischen Landbevölkerung folgte.
Diese Ost-West-Polarisierung unterstützte die Vorstellung, dass die Besonderheit des osteuropäischen Familiensystems mit hohen Geburtenraten, hoher Sterblichkeit, Armut, dem Verharren in einem anti-modernen Wertesystem und anderen Hürden für die Ausbreitung des Kapitalismus und seinen das Individuum betonenden Werten einher ging. Die „osteuropäische Andersartigkeit“ diente auch zur Erklärung verschiedener Ideologien und nationaler politischer Kulturen.
Die Analyse von historischen Mikrozensusdaten für fast 700 Siedlungen liefert nun ein detaillierteres Bild der Familiensysteme im Vielvölkerstaat Polen-Litauen (mit den Bevölkerungen Polens, der Ukraine und Weißrusslands) am Ende des 18. Jahrhunderts. Der Vergleich des westlichen, zentralen und östlichen Gebiets ergibt ein klares Entwicklungsmuster (Tabelle 1). Fast alle Indikatoren, die die Komplexität von Haushalten beschreiben, nehmen nach Osten hin zu.
Tab. 1: Charakteristika der Familienmuster: Der Westen, zentrale Osten und der Osten von Polen-Litauen im späten 18. Jahrhundert.
Im westlichen Gebiet (Polen) waren die Familien überwiegend einfach strukturiert. Es gab wenige im Haushalt wohnende Verwandte, dafür umso mehr Nicht-Verwandte als Gesinde oder Inwohner. Männer heirateten üblicherweise spät, sogar Frauen selten vor dem Alter von 24 Jahren. Mit der Heirat wurden die Männer meist Haushaltsvorstand. All diese Merkmale weichen herausstechend von den konventionellen Merkmalen osteuropäischer Familiensysteme ab. Sie weisen vielmehr auf ein recht schwaches Senioritätsprinzip hin und rücken das System in die Nähe des nordwesteuropäischen Familienmusters. Ähnlich wie in Westeuropa verließen viele Jugendliche in Polen ihre Elternhäuser, um in anderen Haus halten als Gesinde zu arbeiten und zu leben.
In den Gemeinden des zentralöstlichen Teils (Ukraine) gab es mehr Mehrgenerationenhaushalte als im westlichen Polen, doch die einfache Kernfamilie dominierte. Auch war das Heiratsalter etwas niedriger als im Westen, und die Heirat führte nicht notwendigerweise zur Gründung einer separaten Produktions- und Konsumeinheit, sondern häufiger zu der Ausweitung einer bereits bestehenden Einheit. Junge Erwachsene verließen nicht unbedingt ihr Elternhaus. Mitunter blieben sie bis in ihre späten 30er im elterlichen Haushalt.
In der östlichen Zone (Weißrussland) war es üblich, dass Verwandtschaft mit im Haushalt lebte. Lebensgemeinschaften setzten sich aus mehreren Generationen, aus Brüdern und deren Familien sowie aus weiteren Verwandten zusammen. Familien wurden früh gegründet, doch blieben junge Eheleute üblicherweise im Haushalt des Vaters des Bräutigams oder dessen älterem Bruder. Mit der Position eines Haushaltsvorstands konnten Männer meist erst jenseits der 50 Jahre rechnen. Die Arbeitsleistung wurde in der zentralöstlichen und östlichen Zone fast ausschließlich von den Männern der Großfamilie geleistet – und ersetzte damit quantitativ die Arbeit des unverwandten Gesindes im Westen.
Die Forschungsergebnisse zeigen, wie vielfältig die Familienformen in Osteuropa waren. Vereinfachende Modelle werden dieser Mannigfaltigkeit nicht gerecht. Die unterschiedlichen Familienformen können nicht einfach den groben Kulturregionen Europas zugeordnet werden, wie Forscher es zuvor nahe legten, und vor allem die Charakteristika im westlichen Polen zeigen, dass es so etwas wie eine slawische und eine nicht-slawische Familienform nicht gibt. Das politische Konstrukt „Osteuropa“ lässt sich nicht in ein einheitliches historisches Familiensystem übersetzen. Im Gegenteil: Es gab eine beachtliche Variation an Mustern in den unterschiedlichen slawischen Populationen der Polen, Ukrainer und Weißrussen, die im ehemaligen Polen-Litauen lebten, mit erheblichen Auswirkungen auf die weiteren demografischen Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert. Mag das historische Osteuropa auch die verschiedenen Schichten des geschichtlichen Erbes teilen – als eine Region mit gemeinsamen demografischen Charakteristika sollte Osteuropa nicht beschrieben werden.