Immer mehr Menschen werden sehr alt. Können sie sich über gewonnene Jahre in Gesundheit freuen oder ist die zusätzliche Lebenszeit durch Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit charakterisiert? Jahrzehntelange Forschung zu Lebenserwartung und Krankheitsverläufen im Alter ist nun in einem Übersichtsartikel veröffentlicht worden und zeigt die Komplexität dieser Fragestellung. Einige der Ergebnisse lassen auf positive Entwicklungen beim Altern hoffen.
So ist die Lebenserwartung in vielen Industriestaaten seit Beginn des 20. Jahrhunderts um mehr als 30 Jahre gestiegen. Setzen sich Trends in Ländern wie Japan, Kanada, Frankreich und Deutschland unverändert fort, werden die meisten der heute dort Neugeborenen ihren 100. Geburtstag erleben. Tabelle 1 stellt das prognostizierte höchste Alter in acht ausgewählten Industrieländern für die Geburtsjahrgänge 2000 bis 2007 dar, bis zu welchem mindestens 50 Prozent der Kohorte überleben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Lebenserwartung weiter zunimmt. Bislang finden sich in den Daten keinerlei Hinweise, dass in naher Zukunft eine mögliche Obergrenze erreicht wird (vgl. Demografische Forschung Aus Erster Hand 2/2005).
Tab. 1: Prognostiziertes höchstes Alter (in Jahren) für die Geburtsjahrgänge 2000 bis 2007, bis zu welchem mindestens 50 Prozent der Kohorte überleben (Quelle: Human Mortality Database):
Da sich die Sterblichkeit von Kindern und jungen Erwachsenen bereits auf sehr niedrigem Niveau befindet, setzen weitere Zugewinne bei der Lebenserwartung einen Rückgang der Mortalität im hohen Alter voraus. Diese Erwartung ist für reiche Industriestaaten durchaus realistisch: Abbildung 1 zeigt, mit welcher Wahrscheinlichkeit in der Vergangenheit 80- beziehungsweise 90-Jährige vor ihrem 81. beziehungsweise 91. Geburtstag starben. Mit nur wenigen Ausnahmen sank die Sterblichkeit beständig – bei beiden Geschlechtern und in beiden Altersstufen. Durchschnittswerte aus 30 Industrienationen lassen einen ähnlichen Trend erkennen: 1950 konnten bei den 80-Jährigen etwa 15 Prozent der Frauen und 12 Prozent der Männer damit rechnen, weitere zehn Jahre zu leben. Im Jahr 2002 lagen diese Werte bereits bei 37 Prozent beziehungsweise 25 Prozent. Doch wie geht es den älteren und hochbetagten Personen gesundheitlich? Die Forschungsansätze zur Untersuchung dieser Frage sind vielfältig. So steigt die Zahl jener Personen, bei denen Krebs oder chronische Krankheiten, wie Diabetes und Arthritis, diagnostiziert werden. Dies mag teils auf verstärkte medizinische Aufklärung und Kontrolle in der älteren Bevölkerung zurückgehen, ohne dass die zugrundeliegenden Krankheiten zugenommen haben. Andere Erkrankungen wie die des Herz-Kreislauf-Systems kommen insgesamt häufiger vor. Dabei ist zwar die Zahl der Neuerkrankungen rückläufig, jedoch sterben heute weniger Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, weil sich die Behandlungsmöglichkeiten verbessert haben.
Abb. 1: Entwicklung der Sterblichkeit im hohen Alter von 1950 bis 2003 im Ländervergleich: (a) 80-jährige Frauen, (b) 80-jährige Männer, (c) 90-jährige Frauen, (d) 90-jährige Männer. Quelle: Kannisto-Thatcher Database.
Ältere Menschen sind heute sowohl in ihrer Mobilität, wie beim Bücken, Knien, Gehen oder Treppensteigen, als auch in ihrem Seh- und Hörvermögen weniger beeinträchtigt als frühere Geburtsjahrgänge. Positive Trends zeichnen sich zudem in Studien ab, die sich auf die Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) konzentrieren. Im Fokus stehen zum Beispiel Baden, Waschen, Toilettengang, Zubettgehen und Aufstehen sowie Essen, aber auch Tätigkeiten in und außerhalb des Haushaltes, wie Telefonieren, Einkaufen, Nutzung von Verkehrsmitteln, Medikamenteneinnahme und der Umgang mit finanziellen Angelegenheiten. Aus der Mehrzahl dieser Studien ist zu schließen, dass ältere Menschen heute seltener auf Hilfe angewiesen sind und ihren Alltag länger selbstbestimmt bestreiten können. Auf Grund unterschiedlicher Studiendesigns und Gesundheitsindikatoren sind jedoch die Ergebnisse zwischen den Ländern und über die Zeit hin schlecht vergleichbar.
Diesem Problem begegnet die „European Health Expectancy Monitoring Unit“ (EHEMU) mit dem Indikator „Lebensjahre in Gesundheit“. Basierend auf der Frage im Europäischen Haushaltssurvey „Fühlen Sie sich in Ihren täglichen Aktivitäten durch physische oder mentale Probleme, Krankheit oder Behinderung eingeschränkt?“ lassen sich für Personen im Alter von 65 und älter die Jahre ohne Beeinträchtigungen berechnen. Ein internationaler Vergleich ist für 1995 bis 2003 in 14 europäischen Ländern möglich. Jedoch sind keine klaren Trends festzustellen – selbst bei Ländern mit ähnlichen Zugewinnen bei der Lebenserwartung. Einen stärkeren Anstieg der Lebenserwartung ohne schwere ADL-Behinderungen im Vergleich zur Gesamtlebenserwartung finden aber mehrere Länderstudien. Zudem zeigen Analysen aus Frankreich, Deutschland und Belgien, dass in jüngster Zeit – selbst wenn Menschen in höherem Alter krank werden – ein Trend weg von schwerer und hin zu moderater ADL-Behinderung stattgefunden hat.
Im Fazit: Trotz eines Anstiegs chronischer Krankheiten leben unter 85-Jährige heute länger und gestalten ihren Alltag selbstständiger, als es frühere Jahrgänge konnten. Bei den über 85-Jährigen ist das Bild weniger eindeutig, auch weil weniger Daten vorhanden sind. Für das Individuum nimmt mit jedem zusätzlichen Lebensjahr das Risiko zu, auf Hilfe angewiesen zu sein. Auf Bevölkerungsebene spricht jedoch wenig dafür, dass das Niveau der Pflegebedürftigkeit im so genannten vierten Lebensalter nochmals stark steigt. So zeigt ein Vergleich der Altersgruppe 92 bis 100 Jahre aus Dänemark, dass der Anteil jener, die noch ohne Hilfe zurechtkommen, mit steigendem Alter fast konstant bleibt. Dies liegt an der hohen Sterblichkeit unter den hochaltrigen Personen – nur die jeweils Gesündesten überleben ein weiteres Jahr.
Die Kosten im Gesundheitssystem müssen daher durch die Zunahme der Zahl der Hochaltrigen nicht überproportional steigen. Die größte Herausforderung in alternden Gesellschaften ist vielmehr, dass insgesamt immer mehr Ältere immer weniger Jüngeren gegenüberstehen. In Deutschland kamen 1956 beispielsweise auf 100 Personen im Alter von 15 bis 65 nur etwa 16 Menschen im Alter von 65 und mehr, 2006 waren es bereits 29, und bis zum Jahr 2056 wird dieser Wert auf etwa 60 steigen.
Die Folgen demografischer Entwicklungen sind tiefgreifend und erfordern ein Umdenken in vielen gesellschaftspolitischen Bereichen. So sollte die Verteilung der Arbeit über den Lebenslauf überdacht werden. Schon heute kann man auf die älteren Erwerbstätigen nicht ohne Einbußen für alle verzichten. Die verbesserte Gesundheit Älterer und der Wandel hin zur Dienstleistungsgesellschaft ermöglichen, dass Menschen auch mit 60,Anfang 70 künftig stärker ins Erwerbsleben eingebunden sein könnten.
Modellrechnungen zeigen, dass der durch die Bevölkerungsalterung drohende Verlust an Arbeitskraft ausgeglichen werden könnte, wenn die vielen Älteren mehr arbeiten würden als bisher. Mehr noch: Wer länger erwerbstätig ist, könnte im Mittel weniger Wochenstunden arbeiten – dies ließe je nach Lebensphase mehr Zeit für Kinder, Freizeit, Weiterbildung oder die Pflege Angehöriger (vgl. Demografische Forschung Aus Erster Hand 1/2006). Eine solch konsequente Umverteilung der Lebensarbeitszeit würde die Sozialsysteme entlasten, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern und könnte sich – wie vorläufige Ergebnisse andeuten – wiederum positiv auf die Gesundheit und Lebenserwartung der Menschen auswirken.