Vienna Institute of Demography

Negative Folgen der Alterung bislang überbewertet

2010 | Jahrgang 7 | 4. Quartal

Keywords: Bevölkerungsalterung, Altersquotient, Lebenserwartung, Gesundheitszustand im Alter, Rentenalter

Mitautor der wissenschaftlichen Studie: Sergei Scherbov

Wissenschaftlicher Ansprechpartner: Warren Sanderson

Die aktuellen Forschungsergebnisse, die in der Zeitschrift Science* veröffentlicht worden sind, zeigen, dass sich der politische Dialog im Hinblick auf die Bevölkerungsalterung bisher auf ungeeignete Indikatoren gestützt hat. Die Mehrheit der Informationen über das Altern werden Veröffentlichungen der Vereinten Nationen (UN) entnommen. Diese basieren jedoch auf dem biologischen Lebensalter und deklarieren Menschen spätestens dann als Belastung für die Gesellschaft, wenn sie das 65. Lebensjahr und somit das Rentenalter erreicht haben. 

Traditionell wird der Altersquotient (old age dependency ratio, kurz OADR), dazu benutzt, Rückschlüsse auf die Belastung zu ziehen, die der Gesellschaft durch den Unterhalt der älteren Generationen entsteht. Dieser Quotient setzt die Anzahl der von der Gesellschaft abhängigen Menschen über 65 Jahren mit der Anzahl der 15- bis 64-jährigen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in Beziehung. Da der Altersquotient in den industrialisierten Ländern in der Vergangenheit kontinuierlich zugenommen hat, wurde und wird allgemein davon ausgegangen, dass dies die drastische Zunahme der Belastung der Pensions-, Gesundheits-  und Pflegesysteme reflektiert. 

Diese Schlussfolgerung ist inzwischen allerdings veraltet, weil die Menschen länger leben und jemand, der das 65. Lebensjahr erreicht hat, nicht unbedingt eine finanziell von der Gesellschaft abhängige Person darstellen muss. Die Fortschritte im Gesundheitswesen und die damit verbundene höhere Lebenserwartung der Menschen haben die Bedeutung des Lebensalters geändert. In Westeuropa erreichten zum Beispiel um 1800 weniger als 25 Prozent der Männer das 60. Lebensjahr; heute werden über 90 Prozent 60 Jahre alt. Ein 60 Jahre alter Mann kann heute in Westeuropa ungefähr dieselbe Anzahl verbleibender Lebensjahre erwarten wie ein 43-jähriger Mann im Jahre 1800. Jemand, der heute 60 Jahre alt ist, wird als Person mittleren Alters angesehen; im Jahre 1800 gehörten die 60-Jährigen bereits zur alten Bevölkerung. Heute bekommen 80-Jährige künstliche Hüftgelenke, um weiterhin mobil sein zu können. Ältere Menschen leiden heute unter weniger gesundheitlichen Einschränkungen als Menschen desselben Alters vor einigen Jahrzehnten. Auch die Abnahme der kognitiven Leistungsfähigkeit verzögert  sich durch das steigende Bildungsniveau älterer Menschen. Die Medien haben diese Veränderungen ebenfalls wahrgenommen. Wir lesen jetzt häufig: „40 is the new 30“. Diese Feststellung ist jedoch mehr als nur eine Phrase. Sie fordert uns heraus zu überdenken, wie Bevölkerungsalterung  gemessen werden sollte. 

Indem, wie bisher, für die Messung der Bevölkerungsalterung Indikatoren herangezogen werden, die sich ausschließlich auf das chronologische Alter stützen, wird unwillkürlich angenommen, dass sich Faktoren wie die Lebenserwartung sowie Krankheit und gesundheitliche Beeinträchtigung nicht verändern. Allerdings sind viele der altersspezifischen Charakteristika, wie aufgezeigt, nicht konstant geblieben und werden sich auch in Zukunft weiter ändern. Dazu gehört, dass die steigende Lebenserwartung mit einem Zugewinn an Lebensjahren einhergeht, die die Menschen in Gesundheit verbringen. Diese Entwicklung würde es auch ermöglichen, dass künftige Generationen später in den Ruhestand eintreten als bisher, ohne dass sich dies nachteilig auf ihre Gesundheit auswirken müsste. Ein späterer Eintritt in den Ruhestand bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung würde auch dazu führen, dass künftige Generationen in etwa dieselbe Zeitspanne im Ruhestand verbringen wie heutige Rentner. 

Abb. 1: Entwicklung von drei Maßzahlen zur Bevölkerungsalterung in Österreich bis Mitte des 21. Jahrhunderts: Altersquotient (old age dependency ratio, kurz OADR), prospektiver Altersquotient (prospective old age dependency ratio, kurz POADR) und der neue Indikator adult disability dependency ratio (ADDR).

Um die Auswirkungen der Bevölkerungsalterung zu messen, bedarf es neuer Maßzahlen. Politische Entscheidungsträger verwenden jedoch noch veraltete Indikatoren. Dies mag einerseits darauf zurückzuführen sein, dass die entsprechenden Daten einfach abzurufen sind. Andererseits hat es sehr lange keine Alternativen zu den UN-Indikatoren gegeben. Das hat sich inzwischen jedoch geändert. Bereits 2005 wurden neue Möglichkeiten aufgezeigt, Alterung zu messen und dabei die gestiegene Lebenserwartung zu berücksichtigen. So wurde in der Zeitschrift Nature** ein prospektiver Altersquotient (prospective old age dependency ratio, kurz POADR) vorgestellt. Dieser wird definiert als die Anzahl der Personen aller Altersgruppen mit einer ferneren Lebenserwartung von 15 oder weniger Jahren in Relation zur Anzahl aller Personen, welche mindestens 20 Jahre alt sind und eine fernere Lebenserwartung von mehr als 15 Jahren aufweisen. Abbildung 1 stellt für Österreich die Entwicklung des prospektiven Altersquotienten und des konventionellen Altersquotienten bis zur Mitte dieses Jahrhunderts dar. Zu sehen ist, dass der prospektive Quotient weniger stark als der Altersquotient steigt. 

Inzwischen haben wir eine weitere Maßzahl entwickelt: Der adult disability dependency ratio (ADDR) berücksichtigt die eigentliche Beziehung zwischen denen, die Hilfe benötigen, und denjenigen, die diese geben können. Der ADDR bezieht aber im Gegensatz zum POADR die verbleibende Lebenserwartung nicht ein: Die Zahl aller Erwachsenen, die mindestens 20 Jahre alt und gesundheitlich beeinträchtigt sind, wird durch die Anzahl der mindestens 20-Jährigen ohne Beeinträchtigungen dividiert. Wie in Tabelle 1 und in Abbildung 1 zu sehen ist, wächst der ADDR noch viel langsamer als der OADR. Die Bevölkerung wird zwar älter, aber sie wird gleichzeitig auch gesünder – und diese beiden Effekte heben sich gegenseitig auf. Für Österreich heißt das zum Beispiel (siehe Tabelle 1): Nach dem konventionellen Altersquotienten (OADR) würden im Jahr 2048 55 Personen im Alter 65+ in Relation zu 100 Personen im Alter von 15 bis 64 stehen. Nach der POADR-Methode kämen auf 100 Personen mit einer ferneren Lebenserwartung von mehr als 15 Jahren 29 Personen, die weniger als 15 Jahre verbleibende Lebenserwartung haben. Nach der ADDR-Methode kämen nur 18 gesundheitlich beeinträchtigte Personen im Alter von über 20 Jahren auf 100 über 20-Jährige ohne Beeinträchtigungen. 

Tab. 1: Maßzahlen zur Bevölkerungsentwicklung in Industrieländern: Quelle: European Statistics on Income and Living Conditions (EU-SILC), UN World Population Prospects, Revision 2008 (eigene Berechnungen). 

Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch für andere europäische Länder sowie die USA. Zukünftige politische Entscheidungen sollten daher nicht auf „starren“ Altersquotienten mit fixen Altersgrenzen (OADR) beruhen, sondern sowohl die Verlängerung der Lebensspanne (POADR) als auch die steigende Anzahl der in Gesundheit verbrachten Jahre (ADDR) berücksichtigen. Der POADR und ADDR können dazu beitragen, die Öffentlichkeit besser über die Folgen der Verbesserungen im Gesundheitsbereich und der daraus resultierenden höherensLebenserwartung aufzuklären. Unter Berücksichtigung der gestiegenen Lebenserwartung  und und der Erhöhung der in Gesundheit verbrachten Lebensjahre stellt sich der Alterungsprozess der Gesellschaft als weit weniger dramatisch dar, als wenn die implizite Annahme gemacht wird, dass Verbesserungen im Gesundheitsbereichszum Stillstand kommen. Eine langsame und zugleich prognostizierbare Angleichung des Rentenalters, die durch die steigende Zahl der in Gesundheit verbrachten Lebensjahre in höherem Alter gerechtfertigt werden kann, mag für die Öffentlichkeit eher nachvollziehbar und somit auch eher politisch akzeptabel sein als abrupte und massive Anhebungen des Rentenalters, die mit steigenden Sozialkosten gerechtfertigt werden. 

Das deutsche Rentensystem sieht eine Erhöhung des Renteneintrittsalters von heute 65 Jahren auf 67 Jahre für die Geburtsjahrgänge ab 1964 vor. Dies bedeutet eine jährliche Anhebung um ein bis zwei Monate. In den USA steigt das normale Rentenalter (von heute 65 Jahren) sukzessive um ein halbes Jahr, sobald sich die Lebenserwartung der Bevölkerung um ein weiteres Jahr erhöht hat. Damit  kann voraussichtlich das Rentensystem ohne weitere große Reformen aufrechterhalten werden. Die Menschen, die sich über eine höhere Lebenserwartung freuen können, würden somit einen Teil ihrer hinzugewonnen Jahre selbst finanzieren. 

Dies setzt allerdings voraus, dass der Arbeitsmarkt Möglichkeiten zur Beschäftigung älterer Menschen bietet, die ihrem Gesundheitszustand gerecht werden. Die Alterung der Gesellschaft wird sicher zu vielen Veränderungen in den kommenden Jahrzehnten führen. Aber es gibt keinen Grund, die damit verbundenen Herausforderungen unter Zuhilfenahme veralteter Indikatoren übertrieben darzustellen. Es kann effektiver auf die mit der Alterung verbundenen Probleme eingegangen werden, wenn angemessene Maßzahlen verwendet werden.

Literatur

  • Sanderson, W.C., and S. Scherbov: Remeasuring aging. Science 329(2010)5997: 1287-1288.
  • Sanderson, W.C., and S. Scherbov: Average remaining lifetimes can increase as human populations age. Nature 435(2005)7043: 811-813.

Titelseite dieser Ausgabe

Aus Ausgabe 2010/4

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