Die Bevölkerungsentwicklung für die kommenden fünf Jahrzehnte zu prognostizieren, ist mindestens genauso schwierig wie die Wettervorhersage im April. Doch während die Meteorologen bei einer schlechten Vorhersage allenfalls ein paar Menschen im Regen stehen lassen, kann eine falsche Prognose in der Demografie am Ende zu Lücken in der Renten- und Pflegeversicherung, zu Fehlkalkulationen in Unternehmen oder zu einem Mangel an Kitaplätzen führen. Christina Bohk von der Universität Rostock hat daher in ihrer Dissertation ein neues Prognosemodell entwickelt, das nicht nur sehr viele verschiedene Zukunftsszenarien berücksichtigt und kombiniert, sondern auch angibt, wie wahrscheinlich es ist, dass diese Szenarien eintreten werden. Das neue, so genannte „Probabilistic Population Projection Model“ (PPPM) unterscheidet sich von anderen Modellen mit Wahrscheinlichkeitsangabe vor allem durch seine Präzision: Die Gesamtbevölkerung wird nicht als ganze, sondern in kleineren Untergruppen untersucht.
Dabei setzt sich eine Bevölkerungsprognose zunächst einmal aus nur drei Antworten zusammen: Wie viele Menschen werden geboren? Wie viele sterben? Und wie viele wandern ein oder aus? Tatsächlich aber stehen dahinter zahlreiche weitere Fragen, etwa: Wie wirkt sich der Kitaplatz-Ausbau auf den Kinderwunsch von Frauen aus? Welche Krankheiten werden in Zukunft auftreten, und welche Heilungschancen gibt es dafür? Und noch schwieriger: In welchen Ländern könnten politische, ökonomische oder soziale Veränderungen dazu führen, dass Menschen nach Deutschland einwandern oder das Land verlassen? Und vor allem welche? Junge Arbeitnehmer oder Rentner?
Abb. 1: Das Statistische Bundesamt gibt in seiner aktuellen Prognose zwölf Varianten an, wie sich die Bevölkerungszahl in Deutschland bis 2060 entwickeln wird. Wie wahrscheinlich jedes einzelne Szenario ist, bleibt dabei unerwähnt. Quelle: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden.
Genaue Antworten auf diese und zahlreiche andere Fragen zu geben, ist unmöglich. Deshalb gibt beispielsweise das Statistische Bundesamt bei seiner aktuellen Vorausberechnung zwölf verschiedene Varianten für die Bevölkerungsentwicklung an (s. Abb. 1). Einerseits kommt so zum Ausdruck, dass es gewisse Unsicherheiten in der Prognose gibt. Andererseits könnten Politiker sich beispielsweise eine Variante auswählen, in der die Bevölkerung am wenigsten altert, um so schwer durchsetzbare Reformen in der Rentenversicherung zu vermeiden. Wenn diese Variante am Ende aber die unwahrscheinlichste war, ohne dass dies gekennzeichnet wurde, könnte sich das an zukünftigen Rentnern rächen.
Weil es viele verschiedene Zukunftsszenarien mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten gibt, baut Christina Bohk ihr Prognosemodell auf sehr vielen Annahmen auf. Um möglichst präzise Daten zu bekommen, wird die Bevölkerung dabei in so genannte Subpopulationen unterteilt, in Einheimische, Zu- und Abgewanderte sowie in die Nachkommengenerationen der Migranten. Schließlich haben diese Gruppen oft sehr unterschiedliche Geburten- und Sterberaten, die sich auf diese Weise einzeln modellieren lassen. Als Informationsquellen für das Prognosemodell können dabei unbegrenzt viele Daten aus vergangenen Entwicklungen, verschiedenen Theorien und Expertenmeinungen zusammengetragen werden, denen der Prognostiker jeweils eine Eintrittswahrscheinlichkeit zuordnet.
Sind alle Daten gesammelt, wird mit Hilfe der mittlerweile frei verfügbaren Software (s. Literatur) gerechnet und simuliert. Dabei kommt ein Zufallszahlengenerator zum Einsatz, der aus den vielen Annahmen zu Sterbe-, Geburten- und Wanderungsraten in den einzelnen Bevölkerungsgruppen jeweils eine zieht und sie miteinander kombiniert. Nicht zwölf Mal, sondern viele Tausend Mal wird dieser Vorgang wiederholt. So gelingt es zumindest teilweise, die Komplexität der Wirklichkeit abzubilden (s. Abb 2).
Abb. 2: Die stark vereinfachte Darstellung zeigt, wie eine Bevölkerungsprognose nach dem neu entwickelten Modell funktioniert. Pro Durchlauf wird zufällig eine Annahme – hier zur Entwicklung der Fertilitätsraten in den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen – gezogen. Das Ergebnis wird dann aus diesen gezogenen Annahmen berechnet (rot, lila, grün). Der Vorgang wird viele Male wiederholt. Quelle: eigene Darstellung.
Dabei muss der Prognostiker nicht zwangsläufig alle Kombinationen zulassen. Wenn er zum Beispiel annimmt, dass die Lebensdauer von Migranten und Einheimischen ungefähr gleich stark steigt oder sinkt, kann er Kombinationen von sehr unterschiedlichen Entwicklungen der Sterberaten ausschließen. Außerdem hat er die Möglichkeit, einzelne Verläufe im Detail zu analysieren: Wie ändern sich die Geburtenraten bei Einheimischen in der Altersgruppe der 20- bis 25-Jährigen in den nächsten Jahren? Wie wahrscheinlich sind die jeweiligen Antworten auf diese Frage? Und auch: Wie wirkt sich eine bestimmte Annahme in dieser Gruppe auf die Prognose der gesamten Fertilität aus? Letztlich wird durch diesen hohen Detailgrad auch eine Fehleranalyse sehr viel leichter, weil der Prognostiker sehr gut nachvollziehen kann, welche Annahme das Ergebnis wie beeinflusst hat.
Wie eine Beispielprojektion für die Bevölkerung in Deutschland zeigt, entsteht am Ende so ein gleichzeitig sehr präzises, aber keineswegs eindeutiges Bild (s. Abb. 3): Für die nahe Zukunft lässt sich die Anzahl der Menschen in Deutschland noch recht gut eingrenzen. Im Jahr 2050 dagegen ist der Verlauf der Wahrscheinlichkeitskurve relativ flach und breit. Es gibt dann sehr viele verschiedene Werte für die Bevölkerungsanzahl, die alle eine vergleichsweise geringe Eintrittswahrscheinlichkeit haben. Werden diese einzelnen Werte zu einer Spanne zusammengefasst, ist die Prognose wiederum relativ sicher: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent wird die Bevölkerungszahl im Jahr 2050 zwischen 64,4 und 72,4 Millionen Personen liegen.
Abb. 3: Entwicklung der Bevölkerung in Deutschland nach dem neuen Prognosemodell PPPM bis 2050. Auf der senkrechten Achse wird die Wahrscheinlichkeit für verschiedene Bevölkerungszahlen angegeben. Während sie in naher Zukunft noch sehr hoch ist, sind die Ergebniswerte im Jahr 2050 relativ breit gestreut. Quelle: eigene Berechnungen.
Die Angaben, die das Statistische Bundesamt im Jahr 2006 machte, klingen im Gegensatz dazu sehr viel klarer: Knapp 69 Millionen Menschen werden im Jahr 2050 in Deutschland leben, hieß es in einer Erläuterung zur 11. Bevölkerungsvorausberechnung. Ein Wert, der sich besser vermitteln lässt als das ungefähre Ergebnis des neuen Prognosemodells PPPM. Doch – so paradox das klingt – diese genaue Zahlenangabe ist nur scheinbar präzise. Nach der detaillierten Beispielprojektion mit dem PPPM ist es nur zu 1,7 Prozent wahrscheinlich, dass im Jahr 2050 tatsächlich knapp 69 Millionen, also 68,5 bis 68,9 Millionen, Menschen in Deutschland leben werden. Politik, Verwaltung und Wirtschaft würden in diesem Fall mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bei der Bevölkerungsentwicklung falsch planen. Oder anders gesagt: Wer bei gut 98 Prozent Regenwahrscheinlichkeit keinen Schirm dabei hat, wird vermutlich nass werden. Rechnen die betroffenen Stellen dagegen mit einer größeren möglichen Spanne bei der Bevölkerungsentwicklung und berücksichtigen etwaige Unsicherheiten, ist die Chance sehr viel besser, am Ende richtig zu liegen.