ISSN 1613-8856

Vienna Institute of Demography

Kein Kindersegen für Europa

2012 | Jahrgang 9 | 2. Quartal

Keywords: Zusammengefasste Geburtenziffer (TFR), Tempobereinigte Geburtenziffer (pTFR), Paritätseffekt, Tempoeffekt

Wissenschaftlicher Ansprechpartner: Tomáš Sobotka

In einer neuen Studie analysieren John Bongaarts vom Population Council und Tomáš Sobotka vom Vienna Institute of Demography die jüngere Entwicklung der Geburtenziffern in verschiedenen europäischen Ländern. Die konventionelle, zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) zeigt dabei für die vergangenen Jahrzehnte vielerorts eine sehr wechselhafte Entwicklung: So lag sie etwa in Spanien 1980 bei 2,2, sank bis 1998 auf 1,16 und erreichte 2008 wieder einen Wert von 1,46 Kindern pro Frau. 

Doch warum bekamen Frauen in Spanien 1998 durchschnittlich gerade einmal halb so viele Kinder wie 1980? Oftmals werden solche Zahlen, die in ähnlicher Form in fast allen europäischen Ländern zu beobachten sind, als wichtigster Indikator für die Entwicklung der Fertilität in einem Land interpretiert. Doch tatsächlich wird die konventionelle Geburtenrate durch verschiedene Faktoren verzerrt. An erster Stelle ist hier der so genannte Tempoeffekt zu nennen (vgl. letzte Ausgabe 1/2012): Steigt das Alter, in dem Frauen ihre Kinder bekommen, immer stärker an, so nimmt die Geburtenrate in dieser Zeit ab. Das ist auch dann der Fall, wenn die Frauen in ihrem gesamten Leben nicht weniger Kinder bekommen als vorangegangene Jahrgänge. Bongaarts und Sobotka verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass europäische Frauen vor circa 40 Jahren bei der ersten Geburt 22 bis 25 Jahre alt waren. Bis 2008 stieg das Gebäralter fast überall auf 27 bis 29 Jahre an (s. Abb. 1). Mit den so genannten „tempobereinigten Geburtenziffern“(TFR*) haben Demografen einen Weg gefunden, diesen Effekt aus den Zahlen herauszurechnen.

Abb. 1: Seit Anfang der 70er Jahre ist das Alter, in dem Frauen ihr erstes Kind bekommen, in vielen europäischen Ländern stark angestiegen. Erst in den letzten Jahren hat sich dieser Anstieg vielerorts wieder verlangsamt. Quelle: HFD, Europarat, Eurostat, eigene Berechnungen.

 Bereits in der letzten Ausgabe der Demografischen Forschung Aus Erster Hand konnten solche Zahlen erstmals für Deutschland präsentiert werden. Dabei zeigte sich unter anderem, dass die rapide Abnahme der Geburtenrate nach dem Mauerfall in Ostdeutschland zu großen Teilen auf den Tempoeffekt zurückzuführen ist. Sobotka und Bongaarts konnten nun darlegen, dass nicht nur die Abnahme der Geburtenzahlen in vielen europäischen Ländern vornehmlich durch diesen Effekt zu erklären ist, sondern auch der erneute Anstieg, den viele Länder in den letzten fünf bis zehn Jahren verzeichnen. Denn der Trend, dass Frauen immer später Mütter werden, hat sich fast überall verlangsamt oder wurde sogar gestoppt. Der Sinkflug der Geburtenraten, der vor allem dadurch entstand, dass ältere Jahrgänge ihre Kinder bereits bekommen hatten und jüngere Jahrgänge mit der Familiengründung noch warteten, ist damit vorbei. In der Tschechischen Republik etwa ist die Rate von 1999 bis 2008 um 0,37 Kinder pro Frau wieder angestiegen. Den tempobereinigten Geburtenzahlen zufolge ist gut die Hälfte dieses Anstiegs darauf zurückzuführen, dass Frauen die Familiengründung nicht mehr so stark aufschoben wie zuvor. Bongaarts und Sobotka vermuten aber, dass der Zeitpunkt der Geburten eine noch größere Rolle gespielt hat: Nach einer Methode, die von John Bongaarts und Griffith Feeney entwickelt wurde, rechnen sie nicht nur den Tempoeffekt aus den Zahlen heraus, sondern berücksichtigen auch, wie viele Frauen in den jeweiligen Ländern ein erstes, zweites, drittes oder weiteres Kind bekommen könnten. Tatsächlich bleiben diese so genannten tempo- und paritätsbereinigten Geburtenzahlen (pTFR*) in der Zeit von 1996 bis 2008 nahezu stabil. Der Anstieg der konventionellen, zusammengefassten Geburtenzahlen (TFR), der bis zum Einsetzen der Rezession im Jahr 2008 in fast allen europäischen Ländern zu beobachten war, ist demnach zum größeren Teil auf statistische Phänomene wie den Tempo- und den Paritätseffekt zurückzuführen (vgl. Tab. 1). Er resultiert aus dem Zeitpunkt, zu dem Frauen ihre Kinder bekommen, und nicht daraus, dass sie mehr Kinder zur Welt bringen. Das gilt wahrscheinlich auch für die jüngste Abnahme oder Stagnation der konventionellen Geburtenzahlen, die durch den wirtschaftlichen Abschwung in weiten Teilen Europas verursacht wurde, vermuten die Autoren. 

Tab. 1: Die konventionelle Geburtenziffer (TFR) wird stark davon beeinflusst, in welchem Alter Frauen ihr erstes Kind bekommen (Tempoeffekt) und wie viele Frauen in der Bevölkerung bereits ein erstes, zweites oder drittes Kind (Paritätseffekt) bekommen haben. Werden Tempo- (TFR*) und Paritätseffekt (pTFR*) bei den Geburtenziffern herausgerechnet, minimiert sich der Anstieg. Quelle: HFD, Eurostat, eigene Berechnungen.

Literatur

  • Bongaarts, J., and T. Sobotka: A demographic explanation for the recent rise in European fertility. Population and Development Review 38(2012)1: 83-120.

Titelseite dieser Ausgabe

Aus Ausgabe 2012/2

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