Die nackten Zahlen sind beeindruckend: Hatten die Gesundheitsausgaben in den Niederlanden in den 80er und 90er Jahren noch acht Prozent des Bruttoinlandsproduktes betragen, so stiegen sie nach einer Gesundheitsreform im Jahr 2001 innerhalb von zehn Jahren auf beinahe zwölf Prozent. Das ist der zweithöchste Wert weltweit. Gleichzeitig stieg die Lebenserwartung rapide an. Von 1980 bis 2000 nahm sie pro Jahrzehnt nur um gut ein Jahr zu, zwischen 2000 und 2010 dagegen kamen fast drei Jahre hinzu. Zurückzuführen ist dieser Anstieg vor allem auf einen Rückgang der Sterblichkeit bei älteren Menschen.
Doch wie ist der begründet? Eine Verbindung mit der Gesundheitsreform und den gestiegenen Ausgaben scheint nahe zu liegen und ist in den Niederlanden auch wiederholt gezogen worden. Frederik Peters vom Lehrstuhl für Demographie der Universität Rostock hat in einer Studie ganz genau nachgesehen.
Anhand der niederländischen Gesundheitserhebungen aus den Jahren 2001/2 und 2007/8 konnte er die Angaben zur Nutzung von Medikamenten und Gesundheitsdienstleistungen während der Reform und nach der Reform vergleichen. Mit Hilfe eines Datenschlüssels war es darüber hinaus möglich, die individuellen Daten mit den Sterberegistern zu verknüpfen und so zu prüfen, wie viele Menschen in einem Zeitraum von vier Jahren nach der Befragung gestorben waren, welche Krankheiten sie hatten und welche Dienstleistungen sie in Anspruch bzw. welche Medikamente sie eingenommen hatten.
Dabei unterschied der Demograf, ob die Befragten an nicht-tödlichen Krankheiten (z.B. Diabetes, Rheuma, Rücken- oder starke Kopfschmerzen) oder tödlichen Krankheiten (z.B. Krebs, schwere Herzprobleme, Infarkte) litten oder gelitten hatten und teilte sie in vier Gruppen ein: Menschen, die an keiner chronischen Krankheit leiden (Gruppe 0), Menschen, die mindestens an einer nicht-tödlichen Krankheit leiden, aber an keiner tödlichen (Gruppe 1), Menschen, die mindestens an einer tödlichen Krankheit leiden, aber an keiner nicht-tödlichen (Gruppe 2) sowie Menschen, die sowohl an mindestens einer tödlichen als auch an mindestens einer nicht-tödlichen Krankheit leiden (Gruppe 3). Um den Umfang der Gesundheitsdienstleistungen zu messen, wurde darüber hinaus erfasst, ob die Befragten ein Jahr vor der Erhebung einmal oder mehrere Male einen Allgemeinmediziner, einen Facharzt oder ein Krankenhaus aufgesucht hatten. Auch die Anzahl der verschriebenen Medikamente innerhalb von zwei Wochen vor der Erhebung wurde berücksichtigt (keines, eins oder mehrere).
Tab. 1: Vor allem Menschen mit tödlichen und nicht-tödlichen Krankheiten konnten ihr Sterberisiko sehr stark verringern. Hatten sie 2001/2 ein mehr als drei mal so hohes Risiko zu sterben wie gesunde Menschen, so sank dies bis 2007/8 auf das Eineinhalbfache. Quelle: CBS Statistics Netherlands, eigene Berechnungen.
Einen deutlichen Rückgang der Sterblichkeit zwischen 2001/2 und 2007/8 konnten die Forscher nur in der Gruppe der am schwersten erkrankten Menschen (Gruppe 3) finden (s. Tab. 1). Dies bestätigt den möglichen Einfluss des verbesserten Gesundheitssystems zumindest indirekt, da gerade diese Gruppe von adäquater medizinischer Versorgung abhängig ist. Überraschenderweise konnten die Forscher keinen Zusammenhang zwischen der niedrigeren Sterblichkeitsrate und einer verstärkten Nutzung der Gesundheitsdienstleistungen feststellen (s. Tab. 2). Im Gegenteil: Je mehr die Befragten das Gesundheitssystem genutzt hatten, desto höher schien ihr Sterberisiko zu sein. Soziodemografische Faktoren oder Verhaltensweisen, wie etwa Bildung, Alter, Nikotinkonsum oder Übergewicht, wurden dabei ebenfalls in der Analyse berücksichtigt. Dabei zeigte sich, dass es hier nur moderate Veränderungen zwischen den Jahren 2001/2 und 2007/8 gab. Auch die Nutzung der Gesundheitsdienstleistungen änderte sich nur wenig. Lediglich der Gebrauch von Medikamenten stieg deutlich an, vor allem bei Arzneien, die Blutdruck oder Blutfett senken und die Herzprobleme regulieren.
Tab. 2: Paradoxer Zusammenhang: Werden Gesundheitsdienstleistungen wie Arztbesuche oder Krankenhausaufenthalte in Anspruch genommen, erhöht sich scheinbar das Sterberisiko. Quelle: CBS Statistics Netherlands, eigene Berechnungen
Bedeutet das, dass die Angebote des Gesundheitssystems mehr schaden als nutzen? Frederik Peters und seine Kollegen verneinen dies. Sie führen das paradoxe Ergebnis auf nicht erfasste Störfaktoren zurück und verweisen darauf, dass es mit den verfügbaren Daten bisher nicht möglich ist, die Krankheiten, die Behandlungsmethoden und die verabreichten Medikamente wirklich detailliert und über mehrere Jahre hinweg zu bestimmen und zu unterscheiden.