Es ist so einfach wie ungerecht: Wer komfortabel lebt, lebt meist auch länger. Dass Akademiker und gut situierte Menschen in der Regel ein höheres Alter erreichen als Menschen mit niedrigerem Bildungsabschluss und vergleichsweise geringem Einkommen, ist oft diskutiert worden. Wie hoch die durchschnittliche Lebenserwartung in den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen aber genau ist, ließ sich bisher nicht benennen. Denn Deutschland verfügt im Gegensatz zu manch anderen Ländern nicht über die nötigen Daten, in denen Informationen zum sozioökonomischen Status mit dem Sterberegister verknüpft sind. Daher haben Marc Luy, Christian Wegner-Siegmundt und Angela Wiedemann vom Vienna Institute of Demography sowie Jeroen Spijker vom spanischen Centre d’Estudis Demogràfics eine Methode entwickelt, mit der sich die Lebenserwartung für spezifische Bevölkerungsgruppen auf Basis von Survey-Daten mit Sterbeinformationen bestimmen lässt. Untersucht wurde der Einfluss der Berufsgruppe, der beruflichen Stellung, des Bildungsgrades sowie des Haushaltseinkommens auf die durchschnittliche Lebenszeit. Für die Auswertung wurden die Daten des Lebenserwartungssurveys (LES) des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung genutzt, der den Beobachtungszeitraum 1984 bis 1998 beinhaltet. Die daraus ermittelten Schätzwerte für die Lebenserwartung beziehen sich auf die Periode 1991/93. Da sich Änderungen in der Lebenserwartung aber nur langsam vollziehen und auch Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen relativ stabil sind, gehen die Wissenschaftler davon aus, dass die Resultate auch die heutige Situation ziemlich genau beschreiben.
Abb. 1: Die Schere geht vor allem bei den unterschiedlichen Berufsgruppen der Männer sehr weit auseinander. Während die Hälfte aller Bergarbeiter bis zum Alter von 66 Jahren verstirbt, ist dies bei den Menschen in Sozial- und Erziehungsberufen erst bis zum Alter von etwa 83 Jahren der Fall. Quelle: LES, eigene Berechnungen
Demnach haben die Höhe unseres Einkommens, unsere Bildung und die Art unseres Berufs einen ganz erheblichen Einfluss auf unsere Lebenserwartung. Besonders deutlich wird dies, wenn sich relativ kleine Gruppen genau definieren lassen – wie etwa die Bergarbeiter: Während sie im Alter von 40 Jahren durchschnittlich noch 26 Jahre zu leben haben, sind es bei Beschäftigten im Dienstleistungsbereich neun Jahre mehr. Grenzt man diese Gruppe weiter ein auf Dienstleister im Bildungsbereich, dann werden die Unterschiede noch deutlicher: Lehrer, Dozenten und Sozialarbeiter dürfen sogar mit gut 40 weiteren Lebensjahren rechnen, werden also im Schnitt 80 Jahre und damit 14 Jahre älter als Menschen, die im Bergwerk arbeiten (s. Abb. 1). Solch erhebliche Unterschiede in der Lebenserwartung kennt man sonst nur, wenn sehr verschiedene Lebensbedingungen, etwa in Industrie- und Entwicklungsländern, verglichen werden.
Neben der Berufsgruppe hat auch die berufliche Stellung einen großen Einfluss auf die durchschnittliche Lebenszeit (s. Abb. 2). Hier ist vor allem entscheidend, ob es sich um einfache Arbeiter handelt oder um Angestellte, Selbständige und Beamte. Während bei den Letzteren die Lebenserwartung im Alter 40 bei ungefähr 36 Jahren liegt, können Arbeiter lediglich mit gut 32 Jahren rechnen. Auch hier vergrößern sich die Differenzen, wenn man die Gruppen noch genauer eingrenzt: So können selbstständige Landwirte nach Erreichen des 40. Lebensjahres im Schnitt noch einmal 40 weitere Lebensjahre erwarten.
Abb. 2: Während Beamtinnen mit einer vergleichsweise hohen Lebenserwartung rechnen dürfen, leben verbeamtete Männer zwar deutlich länger als Arbeiter, aber kürzer als Angestellte und Selbstständige. Quelle: LES, eigene Berechnungen.
Bei den Frauen sind die Unterschiede zwischen den Berufsgruppen und den beruflichen Stellungen vergleichsweise geringer, aber statistisch ebenfalls nachweisbar. Während einfache Arbeiterinnen sich im Alter von 40 Jahren ziemlich genau in der Lebensmitte befinden, leben Beamtinnen im Schnitt knapp sieben Jahre länger. Noch größer, allerdings statistisch unsicherer, sind die Unterschiede, wenn man die beruflichen Untergruppen betrachtet: Unternehmerinnen, die ihr 40. Lebensjahr erreicht haben, werden im Schnitt sogar 90 Jahre alt.
Die berufliche Stellung sowie die Berufsgruppe sind insofern ein guter Indikator für die gesellschaftliche Ungleichheit in der Lebenserwartung, als sie auch mit dem Einkommen und der Bildung zusammenhängen. Die Effekte lassen sich aber auch getrennt voneinander nachweisen (vgl. Tab. 1). So beträgt der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen dem niedrigsten und dem höchsten Einkommensquartil bei den Frauen gut vier Jahre. Bei den Männern beträgt die Differenz dagegen rund fünfeinhalb Jahre. Männer, die in einem Haushalt wohnen, dessen Nettoeinkommen unter 895 Euro liegt und entsprechend zu dem Viertel der Haushalte mit dem geringsten Einkommen zählen, büßen besonders viel Lebenszeit ein. Während der Abstand zur nächst höheren Gruppe hier fast vier Jahre beträgt, verringern sich die Lebenserwartungsunterschiede in den höheren Einkommensklassen auf ein Jahr.
Tab.1: Der Einfluss der Bildung auf die Lebenserwartung im Alter von 40 bzw. 65 Jahren ist bei den Männern deutlicher als bei den Frauen. Die vier Stufen beim Nettoeinkommen der Haushalte umfassen jeweils ein Viertel der Bevölkerung (Stand 1991/93) und haben ebenfalls deutliche Auswirkungen auf die Lebenserwartung. Quelle: LES, eigene Berechnungen
Auch in den Bildungsgruppen sind die Differenzen je nach Geschlecht unterschiedlich stark ausgeprägt. Studierte Männer (ISCED 5-6) haben demnach mit 40 Jahren eine verbleibende Lebenserwartung von gut 38 Jahren. Bei einem Realschulabschluss oder geringerer Bildung (ISCED 1-2) hingegen verbleiben nur 32 Jahre. Ein Abitur, eine Ausbildung oder ähnliche höhere Qualifikationen (ISCED 3-4) lassen die Lebenserwartung im Alter 40 immerhin um zwei Jahre ansteigen.
Analog zu Einkommen und Beruf sind bei den Frauen auch die Bildungsunterschiede geringer als bei den Männern. Wer eine höhere Qualifikation als den Realschulabschluss, aber kein Studium absolviert hat, lebt im Schnitt mit 41 Jahren verbleibender Lebenszeit ein halbes Jahr länger als weniger Gebildete. Akademikerinnen können mit einem zusätzlichen Plus von zwei Lebensjahren rechnen.
Dass die Differenzen zwischen den Bildungs- und Einkommensgruppen geringer sind als zwischen den Berufsgruppen, liegt vor allem an deren kleinteiligeren Unterscheidung und erlaubt keine Rückschlüsse darauf, wie stark Unterschiede bei der Lebenserwartung durch die Einkommenshöhe, die Bildungsstufe oder die Berufsgruppe und berufliche Stellung erklärt werden können. Hätte man etwa bei den Einkommen detaillierter unterschieden, so wären die Differenzen bei der Lebenserwartung auch größer gewesen, erklären die Autoren der Studie. Nichtsdestotrotz zeigt die Studie, wie unerwartet groß die Schere in der Lebenserwartung selbst in einem so hoch entwickelten Land wie Deutschland ist und wie sehr einige Bevölkerungsgruppen hier benachteiligt sind.