In den meisten entwickelten Ökonomien machen die Gesundheitsausgaben mehr als ein Zehntel des Bruttoinlandsproduktes aus. Einige Ökonomen stellen sich daher die Frage, ob ein so großer Gesundheitssektor wirtschaftlich überhaupt sinnvoll ist, oder ob er der Wirtschaft am Ende nicht zu viele Arbeitskräfte entzieht, die an anderer Stelle gewinnbringender eingesetzt werden könnten. Andere wiederum betonen, dass durch die wachsende Gesundheitswirtschaft auch wertvolle Jobs in der Technologiebranche geschaffen würden.
Michael Kuhn vom Vienna Institute of Demography und Klaus Prettner von der Universität Hohenheim gehen beiden Thesen nach und prüfen sie im Hinblick auf Industriestaaten, die einen ausgeprägten Technologiesektor haben. Sie analysieren ein formaltheoretisches Modell einer Wirtschaft mit vier Sektoren: einem Endgütersektor, einem Zwischengütersektor, einem Forschungs- und Entwicklungs-Sektor (F&E) und einem Gesundheitssektor. Die Bevölkerung besteht aus überlappenden Generationen, die ihre Arbeitskraft anbieten und Konsumgüter nachfragen. Die Individuen sind einem Sterberisiko ausgesetzt und altern in dem Sinne, dass ihre Partizipation am Arbeitsmarkt mit zunehmendem Alter abnimmt.
Eine bessere Gesundheitsversorgung vermindert nun sowohl das Sterberisiko als auch die Rate mit der Arbeitskräfte gesundheits- bzw. altersbedingt aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Dies hat zwei Effekte auf die Wirtschaft: Einerseits müssen die Menschen mehr Kapital ansparen, um für eine längere Rentenzeit vorzusorgen. Die höhere Sparquote führt zu fallenden Zinsen und fördert damit Investitionen in innovative Maschinen, deren Entwicklung zu einer Verlagerung von Arbeitskräften aus der Produktion von Endgütern in den F&E Sektor führen. Trotz einer vorläufigen Schwächung der Endgüterproduktion würde das Wirtschaftswachstum aufgrund der Entwicklung neuer Technologien steigen.
Andererseits führt eine gute Gesundheitsversorgung dazu, dass Menschen später altern und damit auch ihre Lebensarbeitszeit verlängern, ein an sich positiver Impuls. Entsprechend der daraus folgenden Verkürzung der Rentenzeit, vermindern Individuen dann aber auch die finanziellen Rücklagen fürs Alter. Die Sparquote ist entsprechend niedriger und die Zinsen höher. Geringere F&E Investitionen sind die Folge und damit auch ein niedrigeres Wachstum. Der Gesamteffekt hängt dann von der genauen Ausprägung der gegenläufigen Teileffekte (längere Rentenzeit durch längere Lebensdauer bzw. kürzere Rentenzeit durch späteres Renteneintrittsalter) ab. Insgesamt, so können Kuhn und Prettner zeigen, gibt es ein Niveau der Gesundheitsversorgung, welches das Wirtschaftswachstum maximiert. Ein kleinerer Gesundheitssektor führt zu einer krankheitsbedingt zu niedrigen Partizipation am Arbeitsmarkt sowie zu einer angesichts der niedrigeren Lebenserwartung zu geringen Kapitalbildung. Ein zu großer Gesundheitssektor hingegen entzieht der Wirtschaft zu viele Arbeitskräfte.
Um die Auswirkungen der umfangreichen Gesundheitsversorgung in den Ländern der Euro-Zone auf Wachstum und Wohlstand abzuschätzen, rechnen Kuhn und Prettner auf Basis demografischer und ökonomischer Daten für den Zeitraum von 1996-2005 zwei Szenarien durch. Im ersten Szenario betrachten sie ein repräsentatives Land der Euro-Zone, in dem während der zehn Jahre im Durchschnitt 9,5 Prozent der Wirtschaftsleistung für Gesundheit verwendet werden, in dem die Lebenserwartung 78,4 Jahre und die Erwerbsbeteiligung 45,6 Prozent betrug und in dem eine Wachstumsrate von 1,6 Prozent realisiert wurde. Im zweiten Szenario betrachten Sie ein ansonsten gleich strukturiertes Land, das jetzt aber mit einem das Wirtschaftswachstum maximierenden Gesundheitssektor ausgestattet ist. Wie vermutet, fällt dieser mit einer Verwendung von 8,6 Prozent der Wirtschaftsleistung für Gesundheit kleiner aus. Ausgehend von einem Referenzjahr, in dem beide Länder das gleiche Einkommensniveau haben, werden für beide Szenarien nun Lebenserwartung, Konsumniveau und Lebensnutzen für repräsentative Individuen berechnet, die bis zu 100 Jahre vor oder nach dem Referenzjahr geboren wurden. Dabei entspricht der Lebensnutzen dem über die erwartete Lebensdauer ermittelten Nutzen aus Konsum, der sich unter Berücksichtigung der Präferenzen von Individuen über bestimmte Konsumgüter und Dienstleistungen ermitteln lässt. Eine umfangreichere Gesundheitsversorgung stiftet in dem Maße Nutzen, in dem sie die Lebenserwartung erhöht. Gleichzeitig aber führt sie zu Nutzeneinbußen, wenn Konsumniveau oder Konsumwachstum eingeschränkt werden. Dabei sind typischerweise wohlhabende Individuen, die nur einen geringen Nutzengewinn aus zusätzlichem Konsum beziehen, eher dazu bereit, Konsum zugunsten lebensverlängernder Gesundheitsleistungen aufzugeben.
Im Vergleich der beiden Szenarien zeigt sich, dass alle Generationen den größeren Gesundheitssektor in der Euro-Zone dem kleineren, wachstumsmaximierenden Sektor vorziehen. Dies gilt selbst für lange nach dem Referenzjahr geborenen Kohorten, deren Konsumzuwachs besonders stark von dem niedrigeren Wirtschaftswachstum beschnitten wird. Der Grund ist, dass die Zahlungsbereitschaft für Gesundheit und Überleben als so genannte „Luxusgüter“ überproportional mit dem Einkommen wächst. Individuen in einkommensstarken Ökonomien, wie denen der Euro-Zone, sind damit in hohem – und bei Wirtschaftswachstum steigendem – Maße bereit, Konsum zugunsten einer höheren Lebenserwartung aufzugeben.