Großfamilien sind asozial, Kinderlose egoistisch? Oder ist Kinderlosigkeit heutzutage etwas ganz Normales und Familien mit vielen Kindern etwas Wunderbares? Wenn es um die eigene Wunschfamilie geht, sind neben sozialen Parametern wie Bildung oder Religion auch kulturelle Vorstellungen und Prägungen oft sehr bedeutsam. Dabei stellt spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Familie mit zwei Kindern das dominante Leitbild. Fast die Hälfte aller Mütter, die zwischen 1943 und 1977 geboren wurde, haben zwei Kinder. Wachsen die Geschwister gemeinsam auf, können sie sich gegenseitig beschäftigen, sich besser sozialisieren und sich im Erwachsenenalter gegenseitig unterstützen – so die gängigen Vorstellungen. Beiden Kindern könne zudem genügend Aufmerksamkeit geschenkt werden, und sowohl finanzielle als auch zeitliche Nachteile durch den Nachwuchs hielten sich im Rahmen.
Doch was bewegt Menschen dazu, von diesem Leitbild abzuweichen und bewusst kinderlos zu bleiben bzw. in kleineren oder größeren Familien zu leben? Dieser Frage gehen Sabine Diabaté und Kerstin Ruckdeschel vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden nach. Sie werteten dafür eine Befragung von 5000 Menschen im Alter zwischen 20 und 39 Jahren aus, in der diese ausführlich ihre Einstellungen zu Familie und der gewünschten Familiengröße angeben (Familienleitbildsurvey 2012). Auch in diesen jüngeren Generationen zeigt sich demnach deutlich, wie dominant das 2-Kind-Ideal nach wie vor ist. Fragt man nach der gewünschten Gesamtkinderzahl, zu der sowohl die bereits geborenen als auch die zusätzlich gewünschten Kinder zählen, gibt die Hälfte der Befragten zwei Kinder an. Ein Viertel hat oder möchte insgesamt drei Kinder, je ein Zehntel will gar kein Kind oder nur eines, und fünf Prozent wünschen sich Großfamilien mit vier und mehr Kindern (s. Abb. 1). Wenn es nicht um die persönliche, sondern allgemein um die „ideale Kinderzahl“ geht, ist das Bild sogar noch klarer: Über 60 Prozent glauben, dass zwei Kinder die ideale Familiengröße in Deutschland sind. Immerhin gut 30 Prozent sehen das Ideal bei drei Kindern erreicht.
Abb. 1: Das Ideal von der vierköpfigen Familie besteht nach wie vor: Fast die Hälfte aller Befragten wünscht sich zwei Kinder. Quelle: Familienleitbildsurvey 2012, eigene Berechnungen
Gegenüber anderen Lebensentwürfen gibt es dagegen durchaus Vorbehalte: Fast jeder dritte Befragte meint, dass Kinderlose sich egoistisch verhalten. Und obwohl nur gut acht Prozent angeben, Kinderreiche seien ihrer Meinung nach asozial, so denken fast drei Viertel der Befragten, dass diese Meinung in der Gesellschaft vorherrsche (vgl. Abb. 2).
Abb. 2: Die eigene Meinung und die in der Gesellschaft wahrgenommene Meinung klaffen teilweise weit auseinander. Während nicht mal jeder Zwölfte selbst der Meinung ist, dass Kinderreiche asozial sind, glauben fast drei Viertel der Befragten, dass diese Meinung in der Gesellschaft vorherrscht. Quelle: Familienleitbildsurvey 2012, eigene Berechnungen
Je nachdem, wie viele Kinder die Befragten haben oder sich wünschen, sind solche Leitbilder unterschiedlich stark ausgeprägt. Kinderlose etwa zeigen eine eher negative Einstellung gegenüber Großfamilien und eine geringere Zustimmung zu der Aussage, dass Kinder „etwas Wunderbares“ seien (s. Abb. 3). Außerdem herrscht in dieser Gruppe die Meinung vor, dass Kinderreiche nicht genügend Zeit hätten, sich um ihren Nachwuchs zu kümmern. Offenbar, so schlussfolgern die Autorinnen, glaubten in dieser Gruppe viele, dass Kinder eine sehr anspruchsvolle und umfassende Betreuung benötigten. Hier komme evtl. ein Leitbild in der Gesellschaft zum Tragen, wonach Kinder eine komplexe und kostspielige Lebensaufgabe seien, bei der man viele Fehler machen könne. In diesem Zusammenhang werde auch häufig eine frühe und umfassendere Kinderbetreuung abgelehnt, was die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erschwert. Dieses gesellschaftliche Klima könne hemmend auf Kinderwünsche wirken, so die Autorinnen.
Abb. 3: Befragte, die von der 2-Kind-Norm abweichen, sehen sich in der Gesellschaft oft mit Vorurteilen konfrontiert. Während sie selbst ihr Familienmodell als etwas Normales oder Richtiges empfinden, vermuten sie bei anderen eine eher negative Einstellung dazu. Die angegebenen Werte sind relative Wahrscheinlichkeiten (Odds ratio) dafür, dass die Befragten den Aussagen mehr oder weniger stark zustimmen als Befragte, die eine 2-Kind-Familie wünschen. Quelle: Familienleitbildsurvey 2012, eigene Berechnungen
Befragte, die sich ein einzelnes Kind wünschen oder bereits haben, ähneln in ihren Leitbildern den Kinderlosen. Sie haben ebenfalls eine eher skeptische Einstellung zu kinderreichen Familien und halten Kinderlosigkeit für etwas Normales. Wichtig ist ihnen, dass Mütter erwerbstätig und unabhängig sind, was mit einem Kind leichter zu bewerkstelligen ist als mit mehreren.
Kinderreiche Eltern oder solche, die es werden wollen, nehmen eine gegenteilige Einstellung ein, wobei sie durchaus wahrnehmen, dass sie sich damit außerhalb des Mainstreams befinden. So halten sie Kinder und Kinderreichtum für etwas sehr Positives und sehen Kinderlose als egoistisch an. Gleichzeitig vermuten sie in der Gesellschaft eine eher negative Einstellung zu Großfamilien und eine tolerante gegenüber Kinderlosigkeit. Tatsächlich aber sehen sich auch Kinderlose in einer Außenseiterposition: Während sie selbst ihr Dasein ohne Kinder als etwas Normales ansehen, nehmen sie in der Gesellschaft wiederum eine nicht so große Toleranz gegenüber einem Leben ohne Nachwuchs wahr. Ebenso stark wie die Einstellung zu Kindern, beeinflussen auch soziale Faktoren den Kinderwunsch. So sind es vor allem Verheiratete und Männer, die der 2-Kind-Norm entsprechen. Unterhalb der 2-Kind-Norm bleiben dagegen meist Westdeutsche, Ledige und wenig oder gar nicht religiöse Menschen. Großstädter wünschen besonders oft gar keinen Nachwuchs.
Den Wunsch nach vielen Kindern äußerten besonders häufig die jüngeren und gut gebildeten Menschen. Auch eine starke Religiosität spielt hier eine Rolle. Darüber hinaus sind das Einkommen und die eigene Sozialisation entscheidende Faktoren, wenn es um die endgültige gewünschte Familiengröße geht: Wer selber mit Geschwistern groß geworden ist, wird sich auch als Elternteil in der Regel mehr als ein Kind wünschen. Wer allerdings mit dem eigenen Einkommen gerade so oder nur schlecht auskommt, wünscht und hat häufiger nur ein Kind. Die Autorinnen vermuten, dass ein geringes Einkommen in diesem Fall begrenzend wirken kann, weil die Kosten für weitere Kinder gescheut werden.
Insgesamt zeigen die Analysen zu den Leitbildern, dass bei der Familiengröße ein gewisser kultureller Druck herrscht. Menschen, die weniger als zwei Kinder haben oder wünschen, verspüren ihn genauso wie Menschen, die gerne drei oder mehr Kinder hätten bzw. haben: Sie entsprechen nicht der Norm. Die beiden Autorinnen sehen hier Verbesserungsmöglichkeiten. Menschen, die mehrere Kinder haben, könnten demnach sozial und ökonomisch stärker unterstützt werden. Das würde möglicherweise auch dazu beitragen, sie vom Stigma der armen, wenn nicht gar „asozialen“ Großfamilie zu befreien. Auch das Stigma von Kinderlosen als einer irgendwie nicht vollwertigen und egoistischen Lebensform sollte familienpolitisch angegangen werden, indem man deren gesellschaftliche Potentiale und individuelle Wünsche noch stärker berücksichtigt. Darüber hinaus müsse geprüft werden, ob ein überfrachtetes Bild vom Elterndasein, das zahlreiche Ansprüche formuliert, nicht allzu oft einer Familiengründung im Wege steht, so die Autorinnen.