Das Leben endet mit dem Tod. Doch unsere Medizin zielt darauf ab, dieses Ereignis so lange wie möglich hinauszuschieben und dabei auch Krankheiten so gut es geht zu bekämpfen. Um zu messen, wie erfolgreich der Kampf gegen bestimmte Erkrankungen wie beispielsweise Krebs, Herzinfarkt oder Demenz ist, werden alle Krankheitsfälle statistisch erfasst. Für 60-jährige Männer in Schweden etwa betrug das Risiko, in ihrem verbleibenden Leben irgendwann einen Herzinfarkt zu bekommen, im Jahr 1994 28,2 Prozent. Das heißt, etwa jeder vierte Mann, der das 60. Lebensjahr erreicht, wird irgendwann in seinem Leben einen Herzinfarkt bekommen. Zehn Jahre später war dieses Risiko um weniger als einen halben Prozentpunkt zurückgegangen (s. Abb. 1). Man könnte also meinen, die Medizin in Schweden wäre bei der Bekämpfung des Herzinfarkts nicht sonderlich erfolgreich gewesen. Das stimmt so allerdings nicht ganz, wie Marcus Ebeling und Roland Rau vom Rostocker Zentrum zur Erforschung des demografischen Wandels zeigen. Gemeinsam mit Karin Modig und Anders Ahlbom vom Karolinska Institute in Stockholm stellen sie im Fachmagazin PloS ONE eine neue Methode vor, mit der sich der Einfluss der veränderten Lebenserwartung und dem veränderten Auftreten von Krankheiten auf die Entwicklung des Erkrankungsrisikos getrennt betrachten lassen.
Abb. 1: Obwohl sich das Risiko für Oberschenkelhalsbrüche von 1994 bis 2014 in den einzelnen Altersstufen verringert hat, ist es für 60-Jährige heute dennoch wahrscheinlicher, dass sie eine solche Fraktur erleiden. Der Grund dafür ist die gleichzeitig gestiegene verbleibende Lebenserwartung für 60-Jährige (s. unten). Quelle: Swedish Register Data, eigene Berechnungen
Warum das sinnvoll ist, machen sie unter anderem an dem oben erwähnten Beispiel von Herzinfarkten deutlich. Denn tatsächlich ist die Neuerkrankungsrate von Herzinfarkten in den einzelnen Altersklassen der schwedischen Männer deutlich gesunken (vgl. Abb. 2). Weil aber die 60-Jährigen im Jahr 2004 mit einem längeren Leben rechnen können als die 60-Jährigen im Jahr 1994, wächst auch der Zeitraum, in dem sie dem Risiko eines Herzinfarktes ausgesetzt sind. Wäre die Lebenserwartung nicht gestiegen, wäre das Herzinfarkt-Risiko um über drei Prozent gesunken (s. Abb. 2). Und andersherum: Hätte sich die Häufigkeit von Herzinfarkten in den einzelnen Altersklassen zwischen 1994 und 2004 nicht verringert, dann wäre die Wahrscheinlichkeit, dass die Männer irgendwann einen Herzinfarkt erleiden, von 1994 bis 2004 um 2,9 Prozent gestiegen.
Um den Erfolg bei der Bekämpfung einer Krankheit zu beurteilen, ist es also sinnvoll sich nicht nur die Anzahl der Fälle anzusehen, sondern auch die Entwicklung der Lebenserwartung zu betrachten. Welchen Einfluss die Lebenserwartung auf die Zahl der Krankheitsfälle hat, ist auch davon abhängig, in welchem Alter die untersuchte Erkrankung in der Regel auftritt. Die Diagnose Darmkrebs etwa wird bei alten und hochbetagten Menschen nicht mehr so häufig gestellt, sie taucht eher früher im Leben auf. Daher hat der Anstieg der Lebenserwartung hier nur einen geringen Effekt auf die Anzahl der Darmkrebsfälle (vgl. Abb.2). Das Risiko für 60-jährige Männer, in ihrem Leben noch an Darmkrebs zu erkranken, lag 1987 bei zwei Prozent. Bis zum Jahr 1994 hatte sich dieses Risiko mit 5,1 Prozent mehr als verdoppelt. Dieser Anstieg ist allerdings tatsächlich auf ein häufigeres Auftreten der Krankheit zurückzuführen. Nur 0,3 Prozentpunkte lassen sich auf die höhere Lebenserwartung der schwedischen Männer zurückführen. Hier liegt also wirklich eine Herausforderung für die Medizin.
Abb. 2: Nicht nur die Neuerkrankungsrate, auch die Lebenserwartung hat einen Einfluss auf das Erkrankungsrisiko. Quelle: Swedish Register Data, eigene Berechnungen
Marcus Ebeling und seine Kollegen haben die statistischen Daten aus Schweden in ihrem Artikel exemplarisch verwendet. Sie zeigen hier, welche Krankheits- und Sterblichkeitsdaten nötig sind, um die Häufigkeit einer Krankheit unabhängig von der Entwicklung der Lebenserwartung zu berechnen. Weil nur selten vollständige verknüpfte Datensätze zu Krankheit und Sterbefällen verfügbar sind, kombinieren die Demografen Daten aus dem Krebsregister und anderen Gesundheitsstudien mit den Zahlen der Human Mortality Database. Dadurch kommt es zwar zu Verzerrungen, weil Krankheits- und Sterbefälle teilweise doppelt in die Berechnung einfließen. Das führt jedoch dazu, dass die Sterblichkeit eher zu hoch geschätzt wird, so dass das errechnete Risiko als unterer Grenzwert betrachtet werden könne, schreiben die Autoren der Studie. Sie sehen in den aufgezeigten Analysen eine gute Möglichkeit, die Häufigkeit und die Entwicklung einer Krankheit besser einzuschätzen und damit auch Pflegeressourcen besser planen und vorausberechnen zu können.