Max-Planck-Institut für demografische Forschung

Lebenserwartung: Warum stehen die USA so schlecht da?

2020 | Jahrgang 17 | 3. Quartal

Keywords: USA, Lebenserwartung, Sterblichkeit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Opioidepidemie, Drogenbedingte Sterblichkeit

Mitautor der wissenschaftlichen Studie: Mikko Myrskylä

Der Anstieg der Lebenserwartung in den USA im 20. Jahrhundert war gewaltig: Mit jedem Jahrzehnt, das verging, gewannen US-Amerikaner fast zwei Lebensjahre hinzu. Seit 1970 waren dafür vor allem Erfolge bei der Bekämpfung der Herz- und Kreislauferkrankungen verantwortlich: Neue Medikamente zeigten Wirkung, Operationstechniken verbesserten sich und die Lebensstile wurden gesünder. Infolgedessen sank die Sterberate bei Herz- und Kreislaufkrankheiten zwischen 1970 und 2002 um die Hälfte. 

Doch spätestens seit 2010 stagniert diese Entwicklung (s. Abb.1). Während die USA zu Beginn des Jahrtausends bei den Herz- und Kreislauferkrankungen noch ähnliche Sterberaten verzeichneten wie die zehn Länder mit der weltweit höchsten Lebenserwartung, verloren sie in den 2010er Jahren den Anschluss. Im Jahr 2016 schließlich lagen die Sterberaten bereits 30 Prozent über dem Schnitt der TOP-10-Länder, wie Mikko Myrskylä vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock sowie Neil K. Mehta und Leah R. Abrams von der University of Michigan im renommierten Journal PNAS schreiben. Betroffen sind von dieser Stagnation sowohl Männer als auch Frauen, fast alle Altersgruppen und fast alle US-Staaten. 

Sterblichkeit durch Herz-Kreislauferkrankungen

Sterblichkeit durch Herz-Kreislauferkrankungen

Abb.1: Der Anstieg der drogenbedingten Sterblichkeit in den USA ist zwar für die letzten Jahre deutlich sichtbar. Im Vergleich zur Sterblichkeit durch Herz- und Kreislauferkrankungen ist ihr Anteil aber sehr gering. Quelle: CDC Wonder Database

Bisher war für die negative Entwicklung der Lebenserwartung in den USA vor allem die Opioid-Krise, also der zunehmende Missbrauch von Schmerzmitteln, als Erklärung herangezogen worden. Und tatsächlich hat die Sterblichkeit in diesem Bereich zuletzt deutlich zugenommen. Doch das Team um Mikko Myrskylä vermutet, dass die USA nicht vornehmlich durch einen Anstieg von Drogentoten, sondern vielmehr durch ausbleibende Fortschritte bei der Bekämpfung von Herz- und Kreislauferkrankungen ins Hintertreffen gerieten. Um herauszufinden, wie stark sich der Missbrauch von Opioiden und die stagnierende Sterblichkeit bei den Herz- und Kreislauferkrankungen auf die Lebenserwartung insgesamt auswirkten, rechneten die Forscher zwei hypothetische Szenarien durch: Wie hätte sich die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA entwickelt, wenn sich die Sterblichkeit durch Drogenmissbrauch seit 2010 nicht verändert hätte? Und wie hätte sie sich entwickelt, wenn die Sterblichkeit durch Herz- und Kreislauferkrankungen im gleichen Tempo wie vor 2010 weiter zurückgegangen wäre? Gerechnet wurde mit der verbleibenden Lebenserwartung 25-Jähriger. 

Die Ergebnisse der beiden Szenarien zeigen, dass der Missbrauch der Opioide vor allem bei den Männern einen Effekt auf die Entwicklung der Lebenserwartung hatte (s. Abb. 2). Wäre die Sterblichkeit durch Drogenmissbrauch seit 2010 nicht angestiegen, dann würden US-amerikanische Männer heute im Schnitt ungefähr fünf Monate länger leben. Bei Frauen hingegen wäre die Lebenserwartung nur gut einen Monat höher. Die deutlich größeren Effekte zeigen sich im zweiten Szenario: Hätten die USA – so wie viele andere Industrienationen – den positiven Trend bei der Bekämpfung von Herz- und Kreislauferkrankungen fortsetzen können, dann wäre die Lebenserwartung heute bei Frauen um 1,2 Jahre höher, bei Männern um 1,1 Jahre. Diese Zahl, so schreiben die Forscher, entspricht recht genau der Lücke, die sich von 2010 bis 2017 zwischen der Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten und der durchschnittlichen Lebenserwartung in den 27 EU-Ländern gebildet hat – nämlich 1,2 Jahre. 

So hätte sich die Lebenserwartung der Frauen und Männer in den USA entwickelt, wenn...

So hätte sich die Lebenserwartung der Frauen und Männer in den USA entwickelt, wenn...

Abb.2: Wäre die Sterblichkeit durch Herz- und Kreislauferkrankungen weiter wie zwischen 2000 und 2009 gesunken, so wäre der Effekt auf die verbleibende Lebenserwartung deutlich größer gewesen als bei einem Ausbleiben der Opioid-Krise. Im Gegensatz zur Originalstudie ist hier die gesamte Lebenserwartung und nicht die Lebenserwartung ab 25 Jahren dargestellt. Quelle:  CDC Wonder Database

Um zu überprüfen, wie robust die Ergebnisse sind, veränderten die Demografen in weiteren Szenarien einige Parameter: Sie berechneten die Entwicklung der verbleibenden Lebenserwartung mit 15 statt mit 25 Jahren, sie nahmen statt 2010, das Jahr 2000 als Ausgangspunkt für die Untersuchung und sie rechneten mit einer halb so erfolgreichen Bekämpfung der Herz- und Kreislauferkrankungen. Darüber hinaus analysierten sie, inwieweit andere Todesursachen wie etwa Krebserkrankungen einen Einfluss auf die stagnierende Lebenserwartung in den USA hatten. Alle diese Analysen bestätigten das Ergebnis, dass die Sterblichkeit durch Herz- und Kreislauferkrankungen den größten Einfluss auf die Entwicklung der Lebenserwartung seit der Stagnation im Jahr 2010 hatte. Dass dieser Zusammenhang in früheren Analysen teilweise nicht nachgewiesen werden konnte, führen Myrskylä und sein Team darauf zurück, dass viele Forscher sich auf die jüngste Zeit konzentriert hatten, in der die Lebenserwartung zurückging und in der sich die Sterblichkeit durch Herz- und Kreislauferkrankungen bereits nicht mehr verbesserte, sondern schon stagnierte. Die Periode vor dem Jahr 2010, in der die USA hier Jahr für Jahr die Sterberaten senken konnten, geriet dadurch aus dem Blickfeld. 

Dass durchaus weitere Verbesserungen in diesem Bereich möglich gewesen wären, zeigt der Vergleich mit anderen Nationen. So konnten sich in der Vergangenheit selbst Länder mit historisch niedriger Sterblichkeit bei Herz- und Kreislauferkrankungen, wie etwa Japan, immer weiter verbessern (s. Abb.1). Warum dies in den USA seit 2010 nicht mehr gelang, dafür gibt es mehrere mögliche Gründe. Einen der vermutlich wichtigsten sehen die Autoren der Studie in der steigenden Fettleibigkeit in den USA. Bereits Mitte der 1980er Jahre und damit früher als in den meisten anderen reichen Industrienationen stieg in den USA die Zahl der übergewichtigen Menschen deutlich an. Darüber hinaus haben die Vereinigten Staaten einen vergleichsweise hohen Anteil an Diabetikern. Auch die Entwicklung des Raucheranteils in der Bevölkerung könnte eine Rolle spielen, schreiben Mehta, Abrams und Myrskylä. Die Vereinigten Staaten waren das Land, in dem die Zahl der Raucher am frühesten zu steigen und auch am frühesten wieder zu fallen begann. Das bedeutet, während andere Länder immer noch vom Rückgang des Raucheranteils in der Bevölkerung profitieren, könnten die USA diesen positiven Effekt auf die Lebenserwartung bereits in der Vergangenheit verzeichnet haben.

Zudem könne es sein, dass einige der Ursachen, die zur Zunahme drogenbedingter Todesfälle geführt haben, ebenfalls die Sterblichkeit bei den Herz- und Kreislauferkrankungen in die Höhe trieben, schreiben Mysrkylä und seine Kollegen. Sozialer und wirtschaftlicher Abstieg etwa könne beides befördern. Zudem kann die Einnahme von Opioiden das Herz und den Kreislauf stark beeinträchtigen, so dass ein Teil der Todesfälle durch Herz- und Kreislauferkrankungen auf den Konsum von Opioiden zurückzuführen oder zumindest dadurch vorangetrieben worden sein könnte. 

Man wolle daher keinesfalls die Bedeutung der Opioid-Krise in irgendeiner Form herunterspielen, betonen die Autoren um Mikko Myrskylä. Sie habe definitiv zur Stagnation und zum Rückgang der Lebenserwartung beigetragen. Man dürfe aber nicht annehmen, dass eine erfolgreiche Bekämpfung des Missbrauchs von Schmerzmitteln und Drogen die USA wieder auf das Niveau der zehn führenden Länder in Sachen Lebenserwartung zurückführen würde. Dafür wären weitere Erfolge bei der Bekämpfung der Herz- und Kreislauferkrankungen notwendig.

Literatur

  • Mehta, N. K., L. R. Abrams and M. Myrskylä: US life expectancy stalls due to cardiovascular disease, not drug deaths. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 117(2020)13, 6998-7000.
    DOI: 10.1073/pnas.1920391117

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Aus Ausgabe 2020/3

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