Die Spanne der Möglichkeiten in den verschiedenen Regionen ist dabei sehr groß: So kann es sein, dass sich die COVID-19-Pandemie so gut wie gar nicht auf die Lebenserwartung (bei Geburt) auswirkt oder aber zu einem – sehr unwahrscheinlichen – Absinken um elf Jahre führt, wie Guillaume Marois, Raya Muttarak und Sergei Scherbov vom Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital im Fachmagazin PLoS ONE vorrechnen. Ausschlaggebend für die Resultate sind neben der Frage, wie viele Menschen sich mit dem Virus anstecken, auch die Höhe der Lebenserwartung und der Anteil der tödlich verlaufenden Infektionen. Während die Lebenserwartung relativ problemlos ermittelt werden kann, gibt es zur Todes- und Ansteckungsrate unterschiedliche Angaben und Szenarien.
Als Grundlage für die Todesraten hat das Team um Guillaume Marois auf eine Studie in der chinesischen Provinz Hubei zurückgegriffen. Für Menschen unter 60 Jahren wurden relativ geringe Todesraten zwischen 0% (0-9-Jährige) bis 0,6% (50-59-Jährige) verzeichnet. Bei den 60 bis 69-Jährigen steigt die Rate bereits auf fast zwei, bei den 70-79-Jährigen auf über vier und bei den über 80-Jährigen schließlich auf fast acht Prozent. Das bedeutet, dass etwa jeder 12., der sich in dieser Altersgruppe mit SARS-CoV-2 infiziert, an COVID-19 stirbt. Guillaume Marois und sein Team gehen aufgrund der Unterschiede in der Lebenserwartung davon aus, dass in den relativ alten Bevölkerungen von Europa und Nordamerika jeder 100. Infizierte stirbt. In Lateinamerika, der Karibik und Südostasien ist es etwa jeder 200. Infizierte, in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara nur jeder 500. Infizierte.
Weil es unmöglich ist, derzeit vorherzusagen, wie viel Prozent der Bevölkerung eines Landes sich mit SARS-CoV-2 infizieren werden, haben die Autoren hierzu verschiedene Szenarien durchgerechnet, bei denen der Anteil der Infizierten in der Bevölkerung 0%, 5%, 10%, 25%, 50% und 70% beträgt (s. Abb.1). Verbunden mit den jeweiligen Todesraten der Weltregionen ließ sich so der Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die Lebenserwartung ausrechnen. Einbezogen wurde dafür auch die durchschnittliche Lebenserwartung. Denn in Ländern mit einer hohen Lebenserwartung verlieren Menschen natürlich im Schnitt mehr Lebensjahre als in Ländern, in denen das Durchschnittsalter ohnehin eher niedrig ist. Daher sind die Auswirkungen der Pandemie etwa in Lateinamerika und der Karibik größer als in Südostasien.
Rückgang der Lebenserwartung nach Ansteckungsrate mit SARS-CoV-2
Abb.1: In Europa und Nordamerika würde die durchschnittliche Lebenserwartung um mehr als ein Jahr sinken, wenn sich zehn Prozent der Bevölkerung mit SARS-CoV-2 infizierten. In Lateinamerika wären es nur 0,7, in Subsahara-Afrika nur 0,4 Jahre. Quelle: https://doi.org/10.1371/journal.pone.0238678.g001
Mit jedem Prozentpunkt, der bei der Ansteckungsrate hinzukommt, sinkt die Lebenserwartung in Nordamerika, Europa, Lateinamerika und der Karibik um etwa 0,1 Jahre. Infizieren sich beispielsweise zehn Prozent der Bevölkerung (also etwa gut acht Millionen Deutsche oder 900.000 Österreicher) dann sinkt die Lebenserwartung um gut ein Jahr. In Südostasien und vor allem in Afrika wären die Auswirkungen einer vergleichbaren Ansteckungsrate mit 0,7 bzw. 0,4 Jahren dagegen deutlich geringer. Da die altersspezifischen Todesraten jedoch nur grob geschätzt werden können, gibt es einen beträchtlichen Unsicherheitsbereich.
Im Allgemeinen bleibt der Verlust der Lebenserwartung gering, solange sich nur wenige Menschen infizieren: Sind es unter einem Prozent der Bevölkerung so ist der Verlust an Lebensjahren wahrscheinlich kleiner als der allgemeine jährliche Anstieg, der in Ländern mit hohem Einkommen etwa 0,2 Jahre beträgt. Bei sehr hoher Prävalenz jedoch (70%) würde die Lebenserwartung in Nordamerika und Europa um 4 bis 11 Jahre sinken – je nachdem welche Sterblichkeitsraten für COVID-19 angenommen werden. Eine solche Entwicklung würde einen deutlichen Bruch im historischen Trend der Lebenserwartung markieren und wäre in den Alterspyramiden der kommenden Jahre deutlich sichtbar.