Es gibt genügend Gründe, um anzunehmen, dass COVID-19 – wie viele andere Krankheiten auch – eher Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status trifft: Oft leben sie in eher dicht besiedelten Gebieten und Wohnanlagen, können meist nicht von zu Hause aus arbeiten, haben schlechteren Zugang zu Informationen und sind auch gesundheitlich meist benachteiligt. Ob sich das aber tatsächlich auch in den Infektionszahlen widerspiegelt, ist schwer zu überprüfen. Denn es gibt in Deutschland keine Daten zum sozioökonomischen Status der Infizierten.
Gabriele Doblhammer, Constantin Reinke und Daniel Kreft vom Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels haben daher auf regionale Daten und maschinelles Lernen gesetzt, um herauszufinden, ob es in Kreisen mit bestimmten sozialen, kulturellen, geografischen oder ökonomischen Eigenschaften gehäuft zu Infektionen kam. Grundlage für ihre Analyse sind die Fallzahlen des Robert Koch-Instituts in den 401 deutschen Kreisen und kreisfreien Städten sowie insgesamt 166 verschiedene regionale Indikatoren, die vor allem aus den Angaben des INKAR-Datensatzes (Indikatoren und Karten zur Raum- und Stadtentwicklung) gebildet wurden. Dieser Datensatz umfasst zum Beispiel neben Angaben zu Demografie, Einkommen, Bildung und Armut auch Informationen über die Geografie (Nähe zu frühen Hotspots wie Ischgl oder Heinsberg), Religion und Migration.
Hinter der Verschiebung der bekannten Corona-Hotspots von Skiorten und Karnevalsfeiern hin zu Schlachthöfen, Pflegeheimen und Niedriglohn-Betrieben vermuten die Autor*innen der Studie auch eine generelle Entwicklung: Am Anfang der Pandemie waren vor allem die mobilsten Gruppen und damit meist die wohlhabenderen Menschen mit hohem Sozialstatus betroffen, während sich im weiteren Verlauf eher Menschen mit SARS-CoV-2 infizierten, die im Niedriglohnsektor arbeiten. Um diese Hypothese zu prüfen, untersuchten die Wissenschaftler*innen fünf Zeiträume: die Anfangsphase der Pandemie bis Mitte März, drei zweiwöchige Abschnitte vom 15.3. bis zum 30.4. sowie einen längeren Zeitraum mit niedrigem Infektionsgeschehen vom 1.5. bis zum 23.7.
Im ersten untersuchten Zeitraum waren vor allem Kreise stark betroffen, die eher westlich gelegen waren und einen hohen Anteil an Katholiken hatten. Zudem zeigte sich, dass sowohl reichere als auch ärmere Kreise betroffen waren (s. Tab. 1). Im zweiten Zeitraum, zu Anfang des ersten Lockdowns, gab es der Analyse zufolge vor allem in jenen Kreisen hohe Infektionszahlen, die bereits in der 1. Periode viele Infektionen verzeichneten und die nicht so weit vom Hotspot Ischgl entfernt liegen. Unter den ersten 20 Indikatoren, die am stärksten mit diesen frühen hohen Fallzahlen korreliert waren, gehörten sechs, die alle auf einen vergleichsweise hohen sozioökonomischen Status schließen lassen, wie zum Beispiel eine geringe Jugendarbeitslosigkeit. In der dritten Periode schließlich zeichnet sich eine Verschiebung der Infektionsherde in eher städtisch geprägte und ärmere Kreise ab - eine Tendenz, die sich auch im vierten Zeitraum fortsetzt. Im letzten Zeitabschnitt schließlich zeigt sich, dass viele Infektionen nun wieder in eher ländlichen, aber ebenfalls eher ärmeren Kreisen stattfinden.
Welche Kreise und kreisfreien Städte sind besonders von COVID-19 betroffen?
Tab.1: Im späteren Frühjahr sind vor allem Kreise von der Pandemie betroffen, die viele Indikatoren für einen geringen sozioökonomischen Status aufweisen. Die Zahl zeigt an, wie oft ein Indikator unter den ersten zehn Merkmalen war, die eine starke Korrelation mit hohen Infektionszahlen aufwiesen. Quelle: Robert Koch-Institut, Statistische Ämter des Bundes und der Länder, INKAR, Bundesarbeitsagentur, Pflegestatistik, Bundesumweltamt.
Insgesamt, so schreiben die Autor*innen der Studie, könne man anhand der regionalen Daten sehen, dass die erste COVID-19-Welle als Krankheit der wohlhabenden Landkreise in Süddeutschland begann und von dort in ärmere städtische und später dann wieder in ärmere landwirtschaftlich geprägte Kreise lief.