Die Literatur zur Überalterung in den Industrieländern nimmt rapide zu. Im Mittelpunkt stehen vor allem die Herausforderungen, die eine ständig älter werdende Bevölkerung an das wirtschaftliche und soziale System stellen wird. Dabei fällt allerdings auf, dass die verwendeten analytischen Konzepte recht statisch geblieben sind. In einer Studie des Wiener Instituts für Demographie, des International Institute for Applied Systems Analysis in Laxenburg bei Wien und der Universität von New York, Stony Brook, haben wir eine neue Altersdefinition entwickelt: das „prospektive Alter“.
Warum ist ein Mensch mit 60 Jahren heute „mittleren Alters“, während vor 200 Jahren 60-Jährige als „alt“ galten? „Jung“ und „alt“ sind relative Begriffe, deren gemeinsamer Bezugspunkt die Lebenserwartung ist. Um 1800 wurde nur etwa jede dritte Frau 60 Jahre alt, während heute über 90 Prozent der Frauen in den Industrieländern ihren 60. Geburtstag feiern. Das prospektive Alter gibt an, wie alt ein Mensch ist, aber nicht nur mit Blick auf sein Geburtsdatum, sondern auch abhängig von seiner restlichen Lebenserwartung.
Für wesentliche soziale Fragen, etwa zur künftigen Tragfähigkeit der staatlichen Rentensysteme, genügt es nicht zu wissen, wie alt die Menschen sind, sondern wir müssten die Anzahl ihrer noch zu erwartenden Lebensjahre kennen.Auch aus Sicht des Individuums beeinflusst die erwartete verbleibende Lebensdauer zahlreiche Entscheidungen vom Spar- und Investitionsverhalten bis zum Erwerb neuer Fertigkeiten. Bei steigender Lebenserwartung erhalten wir ein vollständigeres Bild der Abläufe beim Altern der Bevölkerung, wenn wir die gesamte Lebensdauer berücksichtigen und nicht nur die Zeit zwischen Geburt und bisher erreichtem Alter.
Zur Illustration des Konzepts stellen wir uns drei unterschiedliche Personen A, B, und C vor: A ist 40 Jahre alt und lebt 1950; B ist auch 40 Jahre alt und lebt im Jahr 2000. A und B haben also das gleiche chronologische Lebensalter. Sie haben aber nicht die gleiche durchschnittlich noch zu erwartende Lebensdauer, da sich die Lebenserwartung zwischen 1950 und 2000 deutlich verbessert hat. Person A hatte 1950 eine verbleibende Lebensdauer von rund 30 Jahren, Person B hat heute eine von rund 40 Jahren. Betrachten wir jetzt eine dritte Person C, die im Jahr 2000 dieselbe verbleibende Lebenszeit von 30 Jahren hat wie A im Jahre 1950. A und C haben also die gleiche noch zu erwartende Lebensdauer, wobei das chronologische Alter von C schon bei rund 50 Jahren liegen wird (also wegen der gestiegenen Lebenserwartung deutlich höher als bei A). Da C aber mit 50 die gleiche Lebenserwartung hat wie A mit 40, definieren wir das prospektive Alter von C – basierend auf den Sterblichkeitsbedingungen von 1950 – mit 40 Jahren. Jedem Menschen lassen sich also zwei Arten des Alters zuordnen: das chronologische (traditionelle) und das prospektive Alter, das sich immer auf ein bestimmtes Vergleichsjahr (hier 1950) bezieht. Allgemein gilt in dem Fall, wenn Vergleichsjahr und laufendes Jahr identisch sind, dass auch chronologisches und prospektives Alter identisch sind. Sind diese Jahre nicht identisch und verändert sich die Lebenserwartung zwischen den Jahren, haben die beiden Maßzahlen unterschiedliche Werte.
Das meistgenutzte Maß der Bevölkerungsalterung ist die Veränderung des medianen Alters einer Population. Das Medianalter halbiert die Bevölkerung: 50 Prozent der Bevölkerung sind jünger und 50 Prozent älter als das mediane Alter. Weil jede Person die erläuterten „zwei Alter“ hat, gibt es auch zwei mediane Alter: das chronologische (konventionelle) mediane Alter und das prospektive mediane Alter.
Abb. 1: Medianes Alter (MA) und prospektives medianes Alter (PMA) für Frauen in Österreich, Deutschland und der Schweiz; Vergleichsjahr für PMA: 1980 (eigene Berechnungen).
Abbildung 1 zeigt das mediane und das prospektive mediane Alter für die weibliche Bevölkerung Österreichs, Deutschlands und der Schweiz über den Zeitraum von 1980 bis 2000 (Vergleichsjahr 1980). Man sieht deutlich, dass das prospektive mediane Alter konstant blieb oder sogar gesunken ist, obwohl das mediane Alter in allen drei Ländern stetig stieg. In Österreich zum Beispiel lag das mediane Alter für Frauen 1980 bei rund 37 Jahren und stieg bis 2000 auf etwa 39 Jahre – dies ist die konventionelle Definition der „alternden Bevölkerung“. Betrachtet man die Situation aber aus der hier vorgeschlagenen neuen Sichtweise, so ist das prospektive (zum Vergleichsjahr 1980) mediane Alter im selben Zeitraum nicht gestiegen, sondern sogar gefallen: von 37 auf 35 Jahre. Dem lässt sich entnehmen, dass eine Frau, die 2000 im Alter von 39 ist, dieselbe verbleibende Lebenserwartung hat wie 1980 eine Frau von 35 Jahren. Da viele Verhaltensoptionen von der Zahl der verbleibenden Lebensjahre abhängen, ist es wichtig, die heute übliche retrospektive Definition des Alters durch eine prospektive Komponente zu ergänzen.
Abb. 2: Medianes Alter (MA) und prospektives medianes Alter (PMA) für Frauen und Männer Österreich, Deutschland und der Schweiz; Vergleichszeitraum für PMA: 1995 bis 2000 (eigene Berechnungen)
In Abbildung 2 verwenden wir Vorausschätzungen der Vereinten Nationen (UN) für das mediane Lebensalter beider Geschlechter für Österreich, Deutschland und die Schweiz für die Zeit von 1995 bis 2050 und berechnen auf Grundlage der UN- Prognosen zum erwarteten Anstieg der Lebenserwartung das prospektive mediane Alter. Obwohl wir diese Prognosen für etwas konservativ halten, zeigt sich, dass das prospektive (zur Vergleichsperiode 1995 bis 2000) mediane Alter viel weniger dramatisch zunimmt als das konventionelle mediane Alter. Während sich das mediane Lebensalter in Österreich nach den UN-Prognosen von 37 auf 50 Jahre erhöht, steigt das prospektive mediane Alter nur von 37 auf 43 Jahre.
Unsere Berechnungen haben wesentliche Auswirkungen für das Verständnis der Konsequenzen, die das Altern der Bevölkerung haben wird – auf der persönlichen wie auf der gesellschaftlichen Ebene. Zum Beispiel nehmen schon jetzt Rentner viel eher Kurse in Anspruch, um neue Freizeitaktivitäten besser genießen zu können, wenn sie mit mehr Lebensjahren rechnen können. Es ist heutzutage nicht überraschend, wenn Menschen mit Ende 40 auf einen zweiten – oder sogar ihren ersten – Abschluss hin studieren. Vor 100 Jahren wäre das eher ungewöhnlich gewesen, aber es wird bald alltäglich werden. Auch manche medizinische Leistungen hängen von der verbleibenden Lebenszeit ab. Ein Beispiel: Künstliche Knie bekommen inzwischen selbst über 70-jährige Menschen. Eine solche Operation hätte wenig Sinn, würde sie dem Patienten nicht eine wesentlich höhere Zahl von Jahren der Mobilität schenken.
Ein prospektives Altersmaß ist nicht nur wichtig, weil viele Verhaltensweisen von der Anzahl der Jahre bestimmt sind, mit denen ein Mensch noch rechnet, sondern weil davon auch ökonomische und soziale Kennwerte abhängen. So nehmen medizinische Ausgaben in den letzten Lebensjahren besonders zu. Bei Prognosen für solche Ausgaben ist es von Bedeutung, dass die letzten Jahre wegen der steigenden Lebenserwartung in einem höheren Alter stattfinden. Die Voraussage von Medizinkosten allein auf Grundlage des chronologischen Alters gelangt zu überhöhten Zahlen und daher zu irrigen Entscheidungen. Ähnlich ist es mit Prognosen für bestimmte Gesundheitsleistungen, etwa dem Bedarf von Pflegeheimplätzen.
Mit der prospektiven Altersberechnung lassen sich auch künftige Änderungen des Rentenberechtigungsalters besser einschätzen. Im Fall Deutschlands stellen wir fest, dass eine Erhöhung des chronologischen Renteneintrittsalters bis 2050 auf 73 Jahre dem Rentenantritt bei konstantem prospektiven Alter entspricht. Das heißt: Menschen, die heute mit 65 Jahren in Rente gehen, haben noch etwa die gleiche Anzahl von Lebensjahren vor sich wie Menschen, die 2050 erst an ihrem 73. Geburtstag in Rente gehen. Das allmähliche Verlagern der Bezugsberechtigung für eine staatliche Rente bis 2050 auf ein Alter zwischen 70 und 73 würde daher jeder Folgegeneration dennoch längere Rentenzeiten gestatten und zugleich helfen, diese zusätzlichen Jahre durch ein verlängertes Arbeitsleben auch zu finanzieren. Das würde bewirken, die Kosten für den längeren Rentenbezug zwischen der älteren und der jüngeren Generation zu teilen, und könnte das staatliche Rentensystem erheblich nachhaltiger gestalten.
Die Ergänzung des Altersbegriffs durch das prospektive Element würde uns also helfen, das Altern genauer zu analysieren, die Herausforderungen unserer alternden Bevölkerungen zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren