Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels

Pflegende Angehörige brauchen mehr Unterstützung

2006 | Jahrgang 3 | 4. Quartal

Keywords: Deutschland, Pflegeszenarien, Europa

Gabriele Doblhammer, Christina Westphal und Uta Ziegler

Alter ist der größte Risikofaktor für Pflegebedürftigkeit. So steigt die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden, mit dem Alter 80 stark: Im Jahr 2003 waren in Deutschland 34 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen über 85 Jahre pflegebedürftig im Sinne von Leistungsbezügen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung. 

Die Ergebnisse von FELICIE zeigen, dass auch eine Verbesserung der Gesundheit der steigenden Anzahl der Pflegebedürftigen nicht entgegenwirken kann. Zwei Szenarien können für die Prognose der Pflegebedürftigkeit im Alter 75+ bis zum Jahre 2030 angenommen werden (siehe Abbildung 1): 

Abb. 1: Prognostizierter Pflegebedarf in Deutschland bis 2030 nach zwei Pflegeszenarien; Quelle: FELICIE (eigene Berechnungen).

1) Das Konstante Pflegeszenario (Constant Disability Scenario): Dieses Szenario geht davon aus, dass die Jahre der Pflegebedürftigkeit proportional zu den hinzugewonnenen Lebensjahren steigen. Demnach wird für Deutschland bei den pflegebedürftigen Frauen ein Anstieg von 39 Prozent prognostiziert. Der Anstieg bei den Männern liegt bei 127 Prozent – die Zahl der pflegebedürftigen Männer würde sich also bis zum Jahr 2030 mehr als verdoppeln. 

2) Das Gesunde-Lebensjahre-Szenario (Healthy Life Gain Scenario): Dieses Szenario basiert auf der Annahme, dass die hinzugewonnenen Lebensjahre gesunde Lebensjahre sind. Dennoch lässt sich ein deutlicher Anstieg der Pflegebedürftigen feststellen. Bei den Frauen liegt dieser bei 20 Prozent, bei den Männern bei 79 Prozent. 

Bei den Männern ist jedoch zu berücksichtigen, dass ihr Ausgangswert deutlich unter dem der Frauen liegt, da die sich gegenwärtig im pflegebedürftigen Alter befindlichen Jahrgänge durch die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert dezimiert sind. Auch gehen die beiden Szenarien von einer Angleichung der Lebenserwartung der Männer an die höhere der Frauen aus. 

In Deutschland werden Pflegeleistungen häufig von der Familie übernommen. Im Jahr 2003 waren etwa zwei Millionen Personen (2,5 Prozent der Bevölkerung) pflegebedürftig, davon 68 Prozent Frauen. Daten des Mikrozensus zeigen, dass von den Pflegebedürftigen zwei Drittel zu Hause gepflegt wurden und nur ein Drittel in Institutionen. 69 Prozent der Pflegeleistungen für diejenigen, die zu Hause gepflegt werden, übernehmen ausschließlich Familienangehörige, 31 Prozent greifen zusätzlich auf Angebote mobiler Pflegedienste zurück. 

Um abzuschätzen, wie sich diese Pflegeleistungen in den nächsten Jahren entwickeln werden, können die zukünftigen Pflegebedürftigen nach ihrer Familienzusammensetzung in drei unterschiedliche Risikogruppen mit Hinblick auf institutionelle Pflege eingeteilt werden. Die Prognosen zeigen, dass vor allem die Zahl der Frauen in denjenigen Personengruppen am meisten steigt, die am wenigsten anfällig für institutionelle Pflege sind: Im Jahre 2000 hatten 13 Prozent der Frauen einen Partner und mindestens ein Kind, im Jahre 2030 werden dies 28 Prozent sein. Der Anteil der Frauen ohne Partner und ohne Kind wird sich hingegen fast  halbieren und von sieben Prozent im Jahre 2000 auf vier Prozent im Jahre 2030 zurückgehen (siehe Abbildung 2). 

Abb. 2: Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland nach Familienform in den Jahren 2000 und 2030; Quelle: FELICIE (eigene Berechnungen).

Künftige sozialpolitische Maßnahmen müssen deshalb darauf abzielen, die Familie bei der Pflege zu unterstützen. Allgemein wird zwischen Inzidenz und Intensität von Pflege unterschieden. Die Inzidenz reflektiert, ob Pflege angeboten wird, während die Intensität Aussagen über Dauer des Pflegeangebots macht. Die FELICIE-Prognosen zeigen, dass in Zukunft die Familie verstärkt als potenzieller Pflegegeber vorhanden sein wird. Der Fokus der Politik muss sich daher auf die Intensität der Pflege richten, zum Beispiel durch den Ausbau mobiler Pflegedienste.

Erfahrungen in den skandinavischen Ländern zeigen, dass eine Inanspruchnahme eines Pflegedienstes die innerhalb der Familie erbrachten Pflegeleistungen nicht senkt, sondern die Pflege in der Familie sogar gestärkt wird. In Ländern hingegen, in denen die Familien eine sehr hohe Pflegeleistung (Intensität) erbringen, sinkt die Häufigkeit (Inzidenz) der Pflegeleistung durch Familien. Dies ist zum Beispiel in Südeuropa der Fall. Zusätzlich müssen Arbeitsmärkte flexibler gestaltet und Pflegeleistungen besser anerkannt und honoriert werden, indem beispielsweise Pflegeleistungen bei späteren Rentenansprüchen berücksichtigt werden. Ferner muss noch mehr Gewicht auf die Forschung in diesem Bereich gelegt werden, vor allem auf Menschen, die in Institutionen leben.

Literatur

  • Doblhammer, G.: Das Alter ist weiblich. Demographie der weiblichen Bevölkerung. Der Gynäkologe 39(2006)5: 346-353.
  • Doblhammer G. and U. Ziegler: Future elderly living conditions in Europe: demographic insights. Gender, health and ageing: European perspectives, G.M. Backes, V. Lasch and K. Reimann (Eds.). VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006 [Alter(n) und Gesellschaft].

Aus Ausgabe 2006/4

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