Oberflächlich betrachtet scheint der Prozess der europäischen Integration ins Stocken geraten zu sein. Durch die Ablehnung des europäischen Verfassungsvertrages durch Frankreich und die Niederlande sowie zahlreiche Streits um nationale Interessen entsteht der Eindruck, dass die Europäische Union (EU) derzeit in eine Phase der Stagnation, wenn nicht gar Desintegration eintritt. Die kurzfristige Entwicklung sollte jedoch den Blick nicht von den längerfristig wirksamen Kräften ablenken.
Eine solche langsam, aber stetig wirkende Kraft ist darin zu erkennen, dass eine steigende Anzahl jüngerer Menschen in Umfragen zusätzlich zu ihrer nationalen Identität eine europäische Identität nennt. Die Dynamik der demografischen Erneuerung und Generationenfolge wird dazu führen, dass die älteren und mehrheitlich national orientierten Personen sukzessive durch die jüngeren, mehr europäisch orientierten Menschen ersetzt werden und daher in den nächsten Jahrzehnten auch die Gesamtbevölkerung Europas in deutlich stärkerem Maß als heute eine europäische Identität zusätzlich zur ihrer nationalen haben ird. Da Identifikation mit einem Staatengebilde eine Voraussetzung für die Akzeptanz seiner politischen Institutionen durch die Bevölkerung ist, wird durch diese Entwicklung auch die Wahrscheinlichkeit verstärkter europäischer Integration langfristig gestärkt.
Abb. 1: Altersprofil der nationalen und europäischen Identität von Frauen und Männern in der EU-15; Quelle: Eurobarometer (eigene Berechnungen).
Die Studie* des Institutes für Demographie, des International Institute for Applied Systems und des Institutes für Höhere Studien analysiert Daten der Eurobarometer-Stichproben. Diese haben über mehrere Jahre hinweg Antworten zu gleich lautenden Fragen zur europäischen Identität in allen Ländern der EU erhoben. Um die Konsistenz der Zeitreihen zu gewährleisten, beschränkt sich diese Analyse auf die 15 Länder, die im Zeitraum 1996 bis 2004 Mitglied der EU waren (EU-15). Für die neuen Mitgliedsländer in Mittel- und Osteuropa scheint das Muster aber ähnlich zu sein. Die im Eurobarometer befragten Personen hatten vier Antwortmöglichkeiten, die in Abbildung 1 nach dem Alter geordnet für alle 15 Länder zusammen dargestellt sind. Diese werden in zwei Kategorien zusammengefasst: Personen, die nur eine nationale Identität angeben, und Personen, die auch eine europäische Identität nennen.
Abb. 2: Altersprofil der Frauen und Männer in der EU-15 mit europäischer Identität in den Jahren 1996 und 2004 sowie Vorausschätzung für 2030; Quelle: Eurobarometer (eigene Berechnungen).
Abbildung 2 zeigt das sich verändernde Altersprofil aller Frauen und Männer in der EU-15, die angeben, zusätzlich zu ihrer nationalen Identität eine europäische Identität zu besitzen; dies wird als mehrfache Identität bezeichnet. Die blaue Kurve stellt die Daten des Jahres 1996 dar. Dabei ist sichtbar, dass die Mehrheit der Menschen im Alter bis etwa 50 Jahre eine solche mehrfache Identität hat, während dies bei den älteren Menschen noch eine Minderheit ist. Die Daten des Jahres 2004 verweisen bereits auf ein leicht verändertes Bild (rote Linie). Die Kurve zeigt weiterhin ein Gefälle mit dem Alter, liegt aber insgesamt auf einem höheren Niveau. Sowohl in den dazwischenliegenden Jahren als auch in allen einzelnen Ländern zeigt sich das gleiche Bild: Ältere Menschen haben in höherem Ausmaß eine rein nationale Identität.
Wie ist dieses Muster zu interpretieren? Theoretisch gesehen könnte dafür auch ein so genannter Alterseffekt verantwortlich sein. Dies bedeutet, dass jeder Mensch mit zunehmendem Alter eher zu einer exklusiv nationalen Identität tendiert. Die alternative Sichtweise ist ein Kohorteneffekt; demnach werden junge Menschen heute anders, also Europa-offener, sozialisiert, und sie behalten diese einmal gewonnene mehrfache Identität für den Rest ihres Lebens bei. Beide Effekte führen zur Abnahme der mehrfachen Identität mit höherem Alter. Wenn dies nur zu einem Zeitpunkt beobacht wird, kann man zwischen diesen beiden möglichen Effekten nicht unterscheiden.
Die Eurobarometer liefern jedoch ein Zeitreihe, aufgrund derer auch statistisch die Stärke der möglichen Effekte abgeschätzt werden kann (Age-Period-Cohort-Analysis/APC). Die Resultate bestätigen, was schon der Vergleich der zwei Kurven in Abbildung 2 vermuten lässt: Es handelt sich um einen klaren und signifikanten Kohorteneffekt. Der Koeffizient beträgt 0,48. Das bedeutet, dass in jedem jüngeren Geburtenjahrgang der Anteil der Menschen mit mehrfacher Identität rund einen halben Prozentpunkt höher ist als in dem älteren Jahrgang.
Auf der Basis dieser Ergebnisse kann man eine Vorausschätzung wagen. Die gelbe Kurve in Abbildung 2 zeigt die Prognose des Anteils der Personen mit mehrfacher Identität in der EU-15 für das Jahr 2030, wenn sich der Kohorteneffekt weiter so wie in der Vergangenheit entwickelt. Demnach wird die Anzahl der erwachsenen EU-15-Bürger, die eine mehrfache Identität haben, von derzeit 177 Millionen bis zum Jahr 2030 auf 226 Millionen steigen, während die Zahl der Personen mit rein nationaler Identität von heute 130 Millionen auf 104 Millionen sinken wird. Dies ist eine signifikante Verschiebung in der Identität des europäischen Wahlvolkes. Wichtig ist zu sehen, dass der deutliche Rückgang in der Zahl der Bürger mit rein nationaler Identität trotz des massiven Alterns der Bevölkerung in Europa erwartet wird. Der geschätzte Kohorteneffekt hin zu verstärkter europäischer Identität ist somit größer als der Effekt der Zunahme der älteren Bevölkerung, die eher zu rein nationalen Identitäten tendiert.
Tab. 1: Häufigkeit mehrfacher Identität: Quelle: Eurobarometer, Durchschnitt 1996 bis 2004 (eigene Berechnungen).
Die Analyse auf gesamteuropäischer Ebene verdeckt allerdings die großen Unterschiede, die es zwischen einzelnen europäischen Ländern gibt. Tabelle 1 zeigt den Anteil der Personen mit mehrfacher Identität in den 15 EU-Ländern (bezogen auf den Durchschnitt der Jahre 1996 bis 2004). Nicht überraschend liegt Luxemburg mit 78 Prozent an der Spitze und Großbritannien mit nur 40 Prozent am Ende der Liste. Deutschland rangiert mit 56 Prozent im Mittelfeld, Österreich mit 51 Prozent drei Plätze dahinter. Etwas überraschend mag sein, dass trotz der Ablehnung des Verfassungsentwurfes in Frankreich 68 Prozent der Bevölkerung eine europäische Identität zusätzlich zur französischen angeben und auch die Niederlande mit 59 Prozent noch vor Deutschland liegen. Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist die Erklärung jedoch klar: Eine Identität als Europäer heißt nicht zwangsläufig, alle konkreten europäischen Institutionen und Gesetzesentwürfe zu befürworten. Auch eine Person mit nationaler Identität kann in Opposition zu konkreten nationalen Politiken sein.
Längerfristig ist eine wachsende europäische Identität unter den EU-Bürgern sicher eine Voraussetzung für mehr Vertrauen in europäische Institutionen und zunehmende Integration. Das heißt allerdings nicht, dass konkret existierende Institutionen und Vertragsentwürfe gleich mehr Zustimmung bekommen werden. Was diese Studie unterstreicht, ist, dass sich die Rahmenbedingungen für europäische Politik durch den unaufhaltsamen Prozess der natürlichen Bevölkerungserneuerung, in dem die älteren, eher national orientierten Menschen durch jüngere Kohorten mit höherer europäischer Identität ersetzt werden, stetig und wesentlich verändern werden.