Es ist bekannt, dass Personen mit höherem Bildungsgrad oder Einkommen ein geringeres Sterberisiko – und damit eine höhere Lebenserwartung haben - als ärmere und weniger gebildete. Mitglieder von Gelehrtengesellschaften sollten demnach eine besonders niedrige Sterblichkeit im Vergleich zu anderen sozialen Gruppen aufweisen. Sie erreichen nicht nur das höchste Bildungsniveau, sondern haben beziehungsweise hatten vor der Pensionierung Positionen mit hohem beruflichem Status inne, meist verbunden mit einem hohen Einkommen.
Die vorliegende Studie des Vienna Institute of Demography analysiert die Lebenserwartung von Gelehrten anhand biografischer Daten wirklicher und korrespondierender Mitglieder der Österreichischen Akademie der Wissenschaften von 1847 bis 2005. Der Untersuchungszeitraum umfasst somit anderthalb Jahrhunderte. Zum Vergleich betrachten wir die Sterblichkeit der Gesamtbevölkerung sowie von Absolventen tertiärer Bildungsgänge, d.h. von Personen mit Hochschulabschluss – letztere sind in ihrer Bildungshöhe mit den Akademiemitgliedern vergleichbar. Aufgrund der geringen Anzahl weiblicher Gelehrter vergleicht die Studie nur die Zahlen für Männer. So wird untersucht, wie sich in der Vergangenheit soziale Unterschiede in der Lebenserwartung entwickelt haben und inwieweit Gelehrte dabei eine Vorreiterrolle innehaben.
Abb. 1: Lebenserwartung im Alter 60 für Mitglieder der Österreichischen Akademie der Wissenschaftern im Vergleich zu österreichischen Sterbetafeln für die Gesamtbevölkerung und die Bevölkerung mit tertiärer Bildung.
Abbildung 1 zeigt die fernere Lebenserwartung im Alter von 60 Jahren für die Mitglieder der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in 10 Jahres-Intervallen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind anfangs keine Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den Gelehrten und der österreichischen männlichen Bevölkerung erkennbar. Krieg und Seuchen dominierten die damaligen Sterblichkeitsverhältnisse, wobei letztere vor allem in den Städten wüteten. Die Statuten der Akademie verlangten einen Wohnsitz der Mitglieder in Wien oder Umgebung – ein Umstand, der dazu beigetragen haben könnte, dass die Gelehrten zu jener Zeit keinen Überlebensvorteil hatten.
Ab Mitte der 1870er Jahre begannen die Sterberaten – insbesondere unter Kindern – zu sinken. Treibende Kräfte waren vor allem verbesserte Hygienebedingungen und Fortschritte in der medizinischen Versorgung. Auch bei den Akademiemitgliedern ist ein Anstieg der Lebenserwartung erkennbar, und – abgesehen von der Periode 1896 bis 1905 – lag die Lebenserwartung der Gelehrten immer leicht, wenn auch nicht statistisch signifikant über jener der männlichen Gesamtbevölkerung. Offenbar profitierten die Akademiemitglieder verstärkt von den medizinischen und hygienischen Fortschritten dieser Zeit.
Anfang der 1970er Jahre stieg dann die Lebenserwartung in der österreichischen Bevölkerung deutlich an, vor allem auch, weil die Sterblichkeit in den höheren Altersklassen abnahm. Ein Vergleich der Lebenserwartung von Gelehrten und der Gesamtbevölkerung zeigt dabei, dass die Schere zwischen diesen Gruppen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer deutlicher aufgeht: Der Unterschied in der verbleibenden Lebenserwartung im Alter von 60 Jahren hat sich von etwa drei Jahren um 1950 auf ungefähr sechs Jahre um 1980 verdoppelt. Es scheint, als hätten die Akademiemitglieder in diesen Jahrzehnten ganz besonders vom Sterblichkeitsrückgang im hohen Alter profitiert.
Interessant ist hier der zusätzliche Vergleich mit den Absolventen tertiärer Bildungsgänge, welcher für drei Jahrzehnte möglich ist. Trotz ähnlicher Bildungshöhe in diesen zwei Gruppen zeichnen sich wieder die Gelehrten durch eine höhere Lebenserwartung aus, auch wenn der Unterschied geringer ist. Folglich lässt sich die niedrigere Sterblichkeit im Vergleich zur Gesamtbevölkerung nicht allein durch die höheren Bildungsabschlüsse erklären.
Doch warum haben Akademiemitglieder eine so hohe Lebenserwartung? Gibt es Erklärungen, die auch für andere die Hoffnung auf ein langes Leben nähren? Es ist einerseits möglich, dass die Gelehrten als ausgesuchte Bevölkerungsgruppe nur Vorreiter einer allgemeinen Entwicklung in der Lebenserwartung sind, auch weil sie zunächst besonders und als erste von medizinischen und gesellschaftlichen Fortschritten profitieren konnten. Für diese These spricht, dass der Sterblichkeitsunterschied zwischen den Gelehrten und der Bevölkerung mit Hochschulausbildung in den letzten 30 Jahren leicht abgenommen hat. Es bleibt dabei jedoch abzuwarten, wie sich die Lebenserwartung anderer Bevölkerungsgruppen entwickelt. Andererseits ist auch nicht auszuschließen, dass sich Gelehrte tatsächlich durch einen Lebensstil abgrenzen, der für ihre deutlich höhere Lebenserwartung verantwortlich ist. Sind sie beispielsweise im hohen Alter gesünder, weil sie oft selbst nach ihrer Pensionierung noch besonders aktiv bleiben? In diesem Fall dürften soziale Sterblichkeitsunterschiede – wie zwischen den Gelehrten und der Gesamtbevölkerung in den vergangenen drei Jahrzehnten – unverändert bestehen bleiben. Ein solches Ergebnis ließe sich als Auftrag an die Gesellschaft und Politik verstehen, die geistigen Aktivitäten älterer Menschen stärker zu fördern.