Dies ist eines der Ergebnisse aus der umfangreichen vergleichenden Forschung zu Geburtenverhalten und Familienpolitik in Europa*, die unter der Federführung des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock durchgeführt wurde. In dem Projektbericht werden in acht Kapiteln ausführlich verschiedene Trends beleuchtet. Darüber hinaus sind 19 Studien zu individuellen Ländern eingebunden.
Die Geburtenraten, gemessen als zusammengefasste Geburtenziffer (TFR), streuen heute in Europa weit. Doch kein einziges Land erreicht das Ersatzniveau von durchschnittlich 2,1, das notwendig wäre, damit die Kindergeneration die Elterngeneration zahlenmäßig ersetzt.
Mit Blick auf das Geburtenniveau teilt sich Europa scharf in zwei Gruppen: Etwa ein Viertel der Bevölkerung Europas lebt in nördlichen und westlichen Ländern, in denen Geburtenraten fast das Ersatzniveau erreichen – sie sind durch Werte von 1,7 und mehr gekennzeichnet. Frankreich, das Vereinigte Königreich, Irland und die Nordischen Länder stehen für hohe Geburtenraten von 1,8 bis 2,0. Die anderen drei Viertel in Mittel-, Ost-und Südeuropa zeichnen sich durch deutlich niedrigere Geburtenraten zwischen 1,3 und 1,5 aus (Abbildung 1). In einigen dieser Länder waren nach 2000 zwar Zeichen einer Erholung auszumachen, jedoch weit unter dem Ersatzniveau.
Abb. 1: Anteil der Europäer, die in Ländern mit einer zusammengefassten Geburtenziffer (TFR) von unter 1,7 bzw. 1,5 und 1,3 leben. Quelle: Kapitel 1 des Projektberichts. Berechnungen des Autors; Daten: Eurostat und Europarat.
Das sich wandelnde Geburtenverhalten im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts äußerte sich beispielsweise in veränderten Familiengrößen. Familien mit vier und mehr Kindern sind die Ausnahme geworden, Zwei-Kind-Familien die Norm. Unter den Frauen, die in den 1950er und 1960er Jahren geboren wurden, haben 40 bis 55 Prozent zwei Kinder. Der Anteil der Frauen mit einem oder keinem Kind stieg in vielen Ländern an.
Die durchschnittliche Verkleinerung der Familiengröße setzte zu einer Zeit ein, da sich neue Möglichkeiten der Geburtenkontrolle boten, so dass Paare den Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder besser planen und unerwünschte Schwangerschaften verhindern konnten. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nutzten fast alle Frauen in West- und Nordeuropa moderne Verhütungsmethoden. Diese setzen sich ebenso in Südeuropa und in den vormals sozialistischen Ländern Mittel- und Osteuropas durch, allerdings noch nicht in dem Ausmaß.
Einer der wesentlichen Faktoren für das Absinken des Geburtenniveaus war das Aufschieben von Familiengründungen und Geburten im Lebenslauf junger Menschen – vor allem, weil diese mehr Zeit für ihre Ausbildung aufwandten. In den 27 EU-Mitgliedsstaaten stieg der Anteil der in Ausbildung befindlichen 18-Jährigen zwischen 1998 und 2006 von 68 auf 77 Prozent an. Im gleichen Zeitraum wuchs die Zahl der Studenten in tertiären Ausbildungen von 15 auf 19 Millionen. Ein ebenso wichtiger Grund für den Aufschub von Familiengründungen war die vermehrte Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben – vielfach mit Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Erwerbsquote von Frauen zwischen 15 und 64 Jahren stieg 1997 bis 2007 in den 27 EU-Staaten von 51 auf 58 Prozent an.
Viele Paare, die das Kinderkriegen zunächst aufgeschoben haben, mögen damit gerechnet haben, ihre Kinder schließlich in ihren späten Dreißigern oder frühen Vierzigern zu bekommen. In Wirklichkeit hat ein fast vollkommenes ‚Aufholen' dieses voraussichtlichen Aufschubs nur in Frankreich stattgefunden. Auch in den Nordischen Ländern, in Belgien und in den Niederlanden haben Paare in großen Teilen dieses Ziel erreichen können. In den meisten europäischen Ländern hat die Mehrzahl der Frauen jedoch keine zweiten oder dritten Kinder bekommen.
Frauen setzen heute in Europa mehr Zeit für Kindererziehung und Hausarbeit ein als Männer. Bei der Entscheidung für ein (weiteres) Kind ist die Notwendigkeit, einen Ausgleich zwischen Erwerbs-und Familienarbeit zu finden, ein wichtiger Gesichtspunkt. In den Nordischen Ländern, wo die Kinderbetreuungsinfrastruktur gut ausgebaut ist und wo Männer sich mehr als in anderen Teilen Europas an der Kindererziehung und Hausarbeit beteiligen, fallen diese Entscheidungen leichter die skandinavischen Paare haben im Durchschnitt mehr Kinder.
Interessanterweise waren gerade diese Länder die Vorreiter bei dem Abfall der Geburtenraten. Demografen haben versucht zu verstehen, warum die Geburtenraten gerade in Nord- und Westeuropa im Laufe der 1960er und 1970er Jahre unter das Ersatzniveau gesunken sind. Sie beobachteten wesentliche Verhaltensänderungen sowie einen Kultur- und Wertewandel in Bezug auf Familiengründung und Entscheidung zum Kind. Der Wertewandel zeigte sich etwa in Form einer zunehmenden Akzeptanz von eheähnlichen Gemeinschaften, nicht-ehelichen Geburten, Lebensentwürfen ohne Kinder und Scheidungen. Diese bewirkten Verhaltensänderungen, die sich vor allem im Aufschieben von Heirat und Geburten, in neuen Formen und einer zunehmenden Instabilität von Partnerschaften sowie in wachsenden Anteilen nicht-ehelicher Geburten und in einem erhöhten Ausmaß an Kinderlosigkeit äußerten.
Abb. 2: Index der Familienwerte und des Verhaltens abgetragen gegen die zusammengefasste Geburtenziffer im jeweiligen Land (2004). Quelle: Kapitel 6 des Projektberichts. Der Index kombiniert acht Indikatoren zu Werten und Haltungen mit sechs Indikatoren zu Familien- und Geburtenverhalten. Je höher der Index, desto weniger traditionell familienorientiert sind die Werte und das Verhalten und desto vorherrschender tolerante und säkulare Werte.
Jüngere Entwicklungen zeigen eine Veränderung dieses Zusammenhangs. So können die heute beobachteten sehr niedrigen Geburtenraten in Europa nicht mehr durch dieses Muster erklärt werden. Besonders die Länder in Nord- und Westeuropa zeichnen sich heute durch vergleichsweise hohe Geburtenraten aus. Der ursprünglich negative Zusammenhang zwischen dem Kultur- und Wertewandel und der Geburtenrate hat sich sogar in einen positiven verkehrt (Abbildung 2). Auch zeigt die jüngste Erfahrung in den Ländern Mittel- und Osteuropas, dass Struktur- und Verhaltensänderungen einem ideellen Wandel vorausgehen können. Trotz dieser Entwicklungen erfreuen sich Ehe und Elternschaft weiter hoher Wertschätzung, und die Norm der verantwortungsvollen Elternschaft wird in ganz Europa betont.
Es ist davon auszugehen, dass die Trends der späten Familiengründung und der niedrigen Geburtenraten anhalten werden und dass die damit in Verbindung stehenden Werte und Normen bis auf weiteres bestehen bleiben. Ebenso wahrscheinlich bleiben die Unterschiede in den verschiedenen Teilen Europas erhalten:Während in Nord- und Westeuropa weiter verhältnismäßig hohe Geburtenraten nahe des Ersatzniveaus zu erwarten sind, ist in Mittel-, Ost-und Südeuropa – auch in den deutschsprachigen Ländern – weiter mit Raten weit darunter zu rechnen. Das Altern der Bevölkerungen wird sich fortsetzen.
Europa wird seine Anziehungskraft für Zuwanderer nicht einbüßen; das Ausmaß der Zuwanderung wird allerdings teilweise durch Beschränkungen niedriger gehalten als es sein könnte. Die Immigration wird aber weiter eine wichtige Kraft sein, um die niedrige Geburtenzahl partiell auszugleichen (siehe Seite 3). Die vergleichende Forschung zeigt darüber hinaus, dass umfangreiche Maßnahmen der Familienpolitik eine positive Wirkung auf Geburtenraten haben können: Bedeutsam sind dabei materielle Anreize, Maßnahmen, die die Spannung bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf etwa durch Kinderbetreuung und flexible Arbeitszeiten reduzieren, die Förderung der Gleichstellung von Geschlechtern sowie ein anhaltendes Engagement auf Seiten der Politik.