Das Leistungspotenzial von Menschen steht im Zentrum der Zukunftsbewältigung in Industrie- und Entwicklungsländern. Dies kann zunehmend mit Zahlen untermauert werden. Idealerweise sollte das Leistungspotenzial auf der Grundlage tatsächlicher Kenntnisse, Fähigkeiten und Qualifikationen sowie der körperlichen und geistigen Gesundheit der Menschen gemessen werden. In der Praxis ist man davon jedoch weit entfernt. So fließen in den Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen Gesundheit und Bildung nur über einfache Indikatoren wie Lebenserwartung bei Geburt, Analphabetenquote und Schulbesuchsraten ein. In den meisten wirtschaftswissenschaftlichen Studien wird das Bildungsniveau der Bevölkerung schlicht über die durchschnittliche Dauer des Schulbesuchs gemessen.
Vor diesem Hintergrund wurde in Zusammenarbeit des International Institute for Applied Systems Analysis in Laxenburg bei Wien (IIASA) mit dem Wiener Institut für Demographie (VID) ein Datensatz entwickelt, der die Methoden der so genannten „Multistate Demography“ auf die Bildungsstruktur der Bevölkerung anwendet. Für alle Länder, die um das Ausgangsjahr 2000 entsprechende Daten zur Bildungsstruktur nach Alter und Geschlecht hatten, wurde diese Struktur einerseits bis 1970 rekonstruiert* und andererseits bis 2050 auf der Basis unterschiedlicher Szenarien projiziert**. Dabei wurden vier Bildungsniveaus unterschieden: 1. keine Schulbildung, 2. mehr als ein Jahr Grundschulbesuch, 3. abgeschlossene untere Sekundarstufe und 4. abgeschlossenes Hochschulstudium.
Mit den demografischen Methoden kann die Dynamik der sich ändernden Bildungsstruktur nach Alter und Geschlecht dargestellt werden. Gleichzeitig werden die Unterschiede im Geburtenverhalten, in den Überlebenswahrscheinlichkeiten und in den Migrationstrends verschiedener Bildungsgruppen berücksichtigt: So haben Menschen mit höherer Bildung generell ein geringeres Sterberisiko und niedrigere Geburtenraten.
Abb. 1: Bevölkerung Singapurs nach Alter, Geschlecht und Bildungsstand in den Jahren 1970 und 2000 sowie prognostiziert bis 2030 nach dem Szenario des weltweiten Bildungstrends (WBT, zur Definition siehe Abbildung 2).
Das Beispiel Singapurs veranschaulicht, wie mit Hilfe dieses demografischen Ansatzes die Entwicklung des Humankapitals in den vergangenen Jahrzehnten mit seinen Auswirkungen auf die Entwicklung und Ökonomie des Landes rekonstruiert wird (Abbildung 1). Im Jahr 2000 gehörten junge Frauen im Alter von 20 bis 24 Jahren zu den am besten ausgebildeten in der Welt – mehr als die Hälfte nahm an tertiärer Bildung teil. Gleichzeitig hatten von den über 60-jährigen Frauen mehr als die Hälfte überhaupt nie eine Schule besucht. Dieser krasse Gegensatz ist dadurch zu erklären, dass Singapur in den 1950er Jahren, als diese Kohorten im Schulalter waren, noch ein Land auf niedrigem Entwicklungs stand war. Erst später wurde massiv in Bildung investiert. Dies führte in der Folge zu starkem Wirtschafts wachstum, was wiederum die weitere Bildungs expansion im tertiären Bereich ermöglichte. Die Bildungsstrukturen in der Abbildung 1 zeigen, wie sich die Bevölkerungsanteile ohne Bildung in der Pyramide mit der Zeit in höhere Altersklassen verschieben.
Um Entwicklungen unter verschiedenen Bedingungen in die Zukunft zu projizieren, wurden vier Szenarien definiert zur zukünftigen Bildungsentwicklung (Abbildung 2), von hoch gesteckten Zielen des „Fast Tracks“ bis hin zur rückläufigen Entwicklung mit konstanten absoluten Schülerzahlen bei wachsender Bevölkerung.
Abb. 2a: Bevölkerung Pakistans nach Alter, Geschlecht und Bildungsstand im Jahr 2005 (oben) sowie Anteil der Frauen und Männer ohne Bildung im Jahr 2005 (unten).
Abb. 2b: Prognose der pakistanischen Bevölkerung nach Alter, Geschlecht und Bildungsstand bis 2050 nach vier Bildungsszenarien (siehe Definition rechte Box).
Wie unterscheidet sich die Zukunft eines Landes als Folge solcher unterschiedlichen Bildungsszenarien? Pakistan bietet dafür ein anschauliches und eindrucksvolles Beispiel (Abbildung 2). Dabei beeinflussen die Bildungsentwicklungen nicht nur das Bildungsprofil der Bevölkerung, sondern auch deren Größe und Altersstruktur, da höher gebildete Frauen generell weniger Kinder haben. Ohne Ausweitung des Schulsystems fände sich Pakistan im Jahre 2050 in der Situation, eine Bevölkerung versorgen zu müssen, die fast dreimal so groß ist wie die heutige, weiter wächst und in der Mehrheit ohne Schulbildung ist. Legt man dagegen die Annahme zugrunde, dass das Schulsystem Pakistans in etwa dem Tempo expandieren wird, wie es im Durchschnitt in anderen Ländern zuvor erfolgt ist, zeigt sich ein anderes Bild: Danach wird die Bevölkerung 2050 zwar älter sein, der überwiegende Teil wird jedoch mindestens eine Sekundarschule besucht haben. Andererseits wird selbst unter diesen relativ optimistischen Annahmen noch ein beträchtlicher Teil der älteren Erwerbsbevölkerung Pakistans gänzlich ohne formale Schulausbildung sein. Pakistan am Scheideweg: Die Zukunft des Landes kann je nach Bildungsbeteiligung seiner Kinder sehr unterschiedlich ausfallen.
Statistische Analysen über Zeitreihen von 120 Ländern konnten zudem aufgrund der neuen Daten erstmals den signifikant positiven Beitrag von Humankapital zum Wirtschaftswachstum im Ländervergleich nachweisen***. Dieser Zusammenhang war bisher schwer zu zeigen, was vor allem an den verwendeten Daten lag, die zwischen Altersgruppen nicht differenzierten. In den Ergebnissen wird deutlich, dass allgemeine Volksschulbildung, wie sie als Millenniumsziel der UN formuliert ist, nicht genügt, um arme Länder auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zu führen. Dazu bedarf es auch großer Teile der Bevölkerung mit Sekundarbildung. Für Industrieländer ist dagegen die Hochschulbildung entscheidend.
Das Einbeziehen der Bildungsdimension berührt auch aktuelle Debatten zur Alterung der Bevölkerung und zur internationalen Wettbewerbs fähigkeit. So zeigen uns die Prognosen, dass die Älteren der Zukunft in fast allen Ländern wesentlich besser ausgebildet und dadurch mit hoher Wahrscheinlichkeit auch gesünder und weniger pflegebedürftig sein werden. Diese Daten ermöglichen nicht zuletzt neue Analysen über die Rolle der Bildung in einer Vielzahl von Bereichen bis hin zur Achtung von Menschenrechten oder der Fähigkeit, die Folgen des Klimawandels zu verkraften. Es braucht seine Zeit, bis sich die Bildung von Kindern in besseres Humankapital bei Erwachsenen übersetzt. Bildung ist eine Langzeitinvestition, die kurzfristig Kosten verursacht. Auf lange Sicht ist es jedoch eine der besten Investitionen, die Gesellschaften für ihre Zukunft tätigen können.