Vienna Institute of Demography

Gesellschaftliche Normen und soziale Netzwerke entscheidend

2009 | Jahrgang 6 | 3. Quartal

Keywords: Fertilitätsabsichten, Theorie des geplanten Verhaltens, Bulgarien, Normen, Niedrigste Fertilität

Maria Rita Testa

Der Kinderwunsch stellt ein wesentliches Element im Entscheidungsprozess für oder gegen ein Kind dar. Dies trifft besonders auf moderne Gesellschaften zu, welche individuellen Präferenzen eine entscheidende Bedeutung zuerkennen. Der Kinderwunsch erfährt daher steigende Beachtung sowohl von Seiten der politischen Entscheidungsträger als auch der Wissenschaft. Eine kürzlich im European Journal of Population veröffentlichte Studie*, die in Zusammenarbeit des Wiener Instituts für Demographie mit der Bocconi-Universität Mailand entstand, untersucht die Bestimmungsfaktoren des Kinderwunsches am Beispiel Bulgariens. Die demografische Entwicklung in Bulgarien ist unter anderem durch einen starken Rückgang der Fertilität in den vergangenen zwei Jahrzehnten gekennzeichnet (vgl. Demografische Forschung Aus Erster Hand 2/2009). So sank die Gesamtgeburtenrate auf derzeit etwa 1,3. Trotz der sehr niedrigen Geburtenraten besteht in Bulgarien weiterhin die Norm, ein Kind zu haben, und die Anteile der Kinderlosen sind im europäischen Vergleich relativ niedrig. 

Die neue Studie untersucht den Prozess, der zur Ausbildung eines Kinderwunsches führt. Entsprechend der Theorie des geplanten Verhaltens (Ajzen 1991) beeinflussen Einstellungen, subjektive Normen und wahrgenommene Verhaltenskontrolle unmittelbar Intentionen, welche wiederum unmittelbar auf das Verhalten eines Menschen wirken (Abbildung 1). Konkret angewendet auf die Frage des Kinderwunsches, beziehen sich Einstellungen auf die erwarteten Konsequenzen, die die Geburt eines Kindes nach sich ziehen wird. Subjektive Normen sind dadurch geprägt, ob nahe Verwandte und Freunde, deren Meinung das Individuum schätzt, zustimmen oder ablehnen, dass die Person ein Kind bekommt. Unter wahrgenommener  Verhaltenskontrolle wird die subjektiv wahrgenommene Möglichkeit verstanden, ein Kind zu bekommen; dies beinhaltet jene Faktoren, die eine Person als hemmend für die Erfüllung des Kinderwunsches erachtet. 

Abb. 1: Schematisches und vereinfachtes Modell der Theorie des geplanten Verhaltens.

Die Studie basiert auf einer Umfrage zu Geburten, die 2002 in Bulgarien durchgeführt wurde. Die Umfrage beinhaltet ein speziell konstruiertes Modul, um die Theorie des geplanten Verhaltens zu testen, die Einstellungen von Frauen und Männern zum Kinderwunsch zu erfragen sowie den Einfluss von Normen zu erforschen. Die etwa 6300 Teilnehmer der Studie beantworteten unter anderem zwölf Fragen, die sich auf die Möglichkeit, innerhalb der nächsten zwei Jahre ein (weiteres) Kind zu bekommen, beziehen. So sollten die Studienteilnehmer etwa bei der Frage nach ökonomischen Schwierigkeiten einschätzen, inwieweit es ihre finanzielle Lage verschlechtern würde, wenn sie in den kommenden zwei Jahren ein Kind bekommen würden. 

In der Datenanalyse werden positive und negative Einstellungen unterschieden. Normen werden gemessen, indem die Befragten zunächst eine Liste von Freunden, Verwandten und anderen ihnen nahe stehenden Personen erstellten, welche ihre privaten Entscheidungen beeinflussen. Sie sollten danach angeben, wieviele Kinder jede dieser Personen hat. Im Folgenden wurde erfragt, wie stark jede dieser Personen zustimmen oder es ablehnen würde, wenn die befragte Person in den nächsten zwei Jahren ein Kind bekäme. In der statistischen Analyse (Tabelle 1) werden Normen mittels zweier Variablen abgebildet: die Meinung von wichtigen Bezugspersonen sowie die Anzahl ihrer Kinder.

Tab. 1: Richtung der Einflussfaktoren zur Absicht, ein erstes oder zweites Kind innerhalb der nächsten zwei Jahre zu bekommen: Anm.: (+) erhöht die Absicht, (++) erhöht die Absicht stark, (+++) erhöht die Absicht sehr stark; (-) reduziert die Absicht, (- -) reduziert die Absicht stark; (n. s.) nicht signifikant.

Wahrgenommene Verhaltenskontrolle wird in der Umfrage durch zwei Fragen erfasst: Zum Einen wurde gefragt, in welchem Ausmaß die Entscheidung, ein (weiteres) Kind zu bekommen, von ökonomischen und beruflichen Bedingungen, der Wohnsituation und der Gesundheit abhängt. Zum Anderen sollten die Befragten ihre Möglichkeiten einschätzen, diese Bedingungen selbst zu bestimmen beziehungsweise diese zu kontrollieren. In den statistischen Modellen werden diese Informationen durch eine zusammengefasste Variable repräsentiert, welche beide Aspekte einschließt. 

Im Fokus der Analyse steht die Frage nach der Absicht, innerhalb der nächsten zwei Jahre, ein (weiteres) Kind zu bekommen. Die befragten Frauen und Männer hatten vier Antwortmöglichkeiten – sicher nein, wahrscheinlich nein, wahrscheinlich ja, sicher ja. Die Autoren analysierten die Daten mittels logistischer Regressionsmodelle. Berücksichtigt wurden hier auch sozio-demografische Hintergrundfaktoren der Studienteilnehmer, wie Alter, Partnerschaftsstatus,Anzahl der Geschwister, Bildung, Größe der Wohnung, Erwerbsstatus, Haushaltseinkommen, Religiosität, allgemeine Einstellung zur Elternschaft, psychische Gesundheit, Desorientierung und Austausch von Unterstützung im sozialen Netzwerk. 

Unterschiedliche Modelle wurden einzeln für Männer und Frauen sowie getrennt nach der Absicht ein erstes beziehungsweise zweites Kind zu bekommen berechnet (Tabelle 1; ausgewiesen wird nur die Richtung der Koeffizienten). Negative Vorzeichen besagen, dass die Wahrscheinlichkeit, sich ein Kind zu wünschen, sinkt; positive Vorzeichen stehen entsprechend für eine steigende Wahrscheinlichkeit des Kinderwunsches. 

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass der Kinderwunsch stark von Einstellungen, Normen und wahrgenommener Verhaltenskontrolle beeinflusst wird; dies ist unabhängig von den genannten Hintergrundfaktoren. Diese Ergebnisse gelten fast ausnahmslos sowohl für Männer als auch für Frauen, unterscheiden sich jedoch nach Parität. Normen sind wichtiger für die Absicht, ein erstes Kind zu bekommen, während Einstellungen wesentlicher für die Absicht sind, ein zweites Kind zu bekommen. Dies lässt sich aus der Stärke des statistischen Zusammenhanges schließen. Wahrgenommene Verhaltenskontrolle ist lediglich für die Absicht, ein zweites Kind zu bekommen, wichtig. Hier unterscheiden sich Personen mit einem sicheren Kinderwunsch von den drei anderen Kategorien. 

Diese Ergebnisse haben mehrere Implikationen für sozialpolitische Maßnahmen. Grundlegend ist zu schlussfolgern, dass mögliche familienpolitische Strategien unterschiedliche Effekte auf die drei Konzepte – Einstellungen, Normen und wahrgenommene Verhaltenskontrolle – haben werden. Bisherige Studien haben gezeigt, dass Normen, die die Absicht beeinflussen, ein erstes Kind zu bekommen, nur in geringem Maß von sozialpolitischen Maßnahmen gesteuert werden. Normen sind Teil eines längerfristigen Wertewandels und sind daher eher unabhängig von kurz- oder mittelfristigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. 

Anders ist dies jedoch in Bulgarien bei dem Wunsch nach einem zweiten Kind. Sollen sozialpolitische Maßnahmen darauf abzielen, die Geburtenzahlen zu erhöhen, könnten sie sich auf den Bereich der Einstellungen richten, die die Absicht beeinflussen, ein zweites Kind zu bekommen. Aktionen von politischen Entscheidungsträgern, der Einfluss der Medien und der Gesellschaft können Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Kosten und Nutzen von Kindern haben. Auch die wahrgenommene Verhaltenskontrolle – welche nur für die Absicht, ein zweites Kind zu bekommen, wesentlich ist – könnte durch politische Maßnahmen veränderbar sein, da sie in enger Beziehung zu den ökonomischen Einschränkungen für eine Familienerweiterung steht. 

Die Ergebnisse der bulgarischen Studie legen nahe, dass familienpolitische Maßnahmen je nach Kinderzahl unterschiedlich konzipiert sein sollten. Nachdem der normative Kontext in Bulgarien die meisten kinderlosen Personen dahingehend beeinflusst, wenigstens ein Kind zu haben, könnte hier ein Programm, welches ein niedrigeres Alter bei der Geburt des ersten Kindes fördert, dienlich sein. Im Gegensatz dazu könnten sich andere Strategien  an Personen richten, die bereits ein Kind haben; diese Maßnahmen  müssten sich dann auf den Übergang zum zweiten Kind konzentrieren. 

In den deutschsprachigen Ländern zum Beispiel, wo das geringe Fertilitätsniveau mit einem niedrigen Kinderwunsch einhergeht, ist der normative Druck, wenigstens ein Kind zu haben, vermutlich geringer als in Bulgarien. Daher könnten sich familienpolitische Maßnahmen hier darauf richten, den Übergang zur Elternschaft zu vereinfachen und nicht nur dessen Zeitpunkt zu beeinflussen. Zu diesem Zweck sind besonders sozialpolitische Maßnahmen relevant, die auf eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familienleben abzielen, wie in der vorigen Ausgabe von Demografische Forschung Aus Erster Hand dargestellt wurde.

Literatur

  • Ajzen, I: The theory of planned behavior. Organizational Behavior and Human Decision Processes 50(1991)2: 179-211.
  • * Billari, F.C., D. Philipov and M.R. Testa: Attitudes, norms and perceived behavioural control: explaining fertility intentions in Bulgaria. European Journal of Population 25(2009) [online first].

Aus Ausgabe 2009/3

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