Zwar wäre auch dann die Lebenserwartung von Männern und Frauen gestiegen. Allerdings für die Zeit von 1990 bis 2009 lediglich um 2,2 Jahre bei den Frauen und bei den Männern sogar nur um knapp 10 Monate, schreibt Tobias Vogt von der Universität Rostock. Ein erheblicher Unterschied zu dem tatsächlichen Anstieg der Lebenserwartung in diesem Zeitraum: Das durchschnittlich erreichte Alter von ostdeutschen Frauen liegt heute 6,3 Jahre höher als 1990, das der Männer sogar 7,4 Jahre höher.
Um überhaupt mögliche, natürlich fiktive Sterberaten für eine auch nach 1990 weiter existierende DDR zu berechnen, hat Tobias Vogt eine in der Demografie bewährte Methode angewandt: Nach dem so genannten Lee-Carter-Modell schrieb er den Trend der Sterberaten aus den 70er und 80er Jahren in die Zukunft fort (s. Abb. 1). Dabei schaute der Demograf auch auf die Sterberaten der Altersgruppen von 0 bis 19 Jahren, 20 bis 39 Jahren, 40 bis 59 Jahren, 60 bis 79 Jahren sowie 80 bis 99 Jahren.
Abb. 1: Mit Hilfe des Lee-Carter-Modells lässt sich die voraussichtliche Lebenserwartung einer noch heute existierenden DDR modellieren. Demnach haben Frauen durch den Mauerfall vier Jahre, Männer beinahe sechs Jahre Lebenszeit hinzugewonnen. Quelle: eigene Berechnung nach Daten der Human Mortality Database
Vor allem die über 60-Jährigen, so zeigte sich bei dieser Analyse, profitierten von dem Anstieg der Lebenserwartung. Bis zu 80 Prozent der zusätzlichen Lebenszeit geht auf ihr Konto. Der Anteil der unter 40-Jährigen dagegen ist marginal. Ein Blick in die Vergangenheit könnte zeigen, warum das so ist. Denn bis Mitte der 70er Jahre verlief der Anstieg der Lebenserwartung in West- und Ostdeutschland nahezu parallel. Er war zu dieser Zeit größtenteils auf die erfolgreiche Bekämpfung von Infektionskrankheiten zurückzuführen
so Tobias Vogt. Dank einer besseren medizinischen Behandlung, Impfungen und Antibiotika zum Beispiel gegen Lungenentzündungen, Masern und Tuberkulose ging vor allem die Sterblichkeit von Kindern in beiden deutschen Ländern gleichermaßen zurück. Erst danach geht die Schere zwischen Ost und West auseinander: Während die Lebenserwartung in der DDR ab Mitte der 70er Jahre nur noch langsam zunimmt, setzt die BRD den rapiden Anstieg der Vorjahre fort. Er ist vor allem auf eine bessere Behandlung von Herz-Kreislauf-Krankheiten zurückzuführen, die hauptsächlich Menschen in höherem Alter zugute kommt.
Die ostdeutsche Sozialpolitik dagegen war kaum auf ältere Menschen, sondern sehr stark auf den Erhalt von Arbeitskraft ausgerichtet. Im Gegensatz zu westdeutschen Rentnern, mussten Ruheständler im Osten mit mageren Renten auskommen und rutschten im Alter oft in prekäre Lebenssituationen. Auch die Versorgung im Allgemeinen war wesentlich schlechter. 1990, so wird geschätzt, hinkte die Gesundheitsversorgung im Osten der im Westen um 15 bis 20 Jahre hinterher. Die Sterblichkeit im höheren Alter ging in Ostdeutschland daher nicht zurück.
Das ändert sich nach dem Fall der Mauer erstaunlich schnell. Dort, wo moderne medizinische Behandlungen als erstes verfügbar waren, sank die Sterblichkeit der über 65-Jährigen innerhalb von sechs Jahren auf Westniveau, so Vogt. Zudem profitierten die Älteren von steigenden Renten und steigender Kaufkraft nach dem Fall der Mauer. Die Erwerbstätigen dagegen hatten in der ersten Zeit nach der Wende mit einer steigenden Arbeitslosigkeit zu kämpfen – ein möglicher Grund dafür, dass sich die Sterberaten vor allem bei den jüngeren Männern noch bis weit in die 90er Jahre hinein schlechter entwickelten als es ohne Wiedervereinigung der Fall gewesen wäre. Im Jahr 2009 aber steht auch diese Altersgruppe wie alle anderen besser da. Dies sei, so Vogt, eine der wenig beachteten, aber bedeutenden Leistungen der Wiedervereinigung: Sie habe den Menschen in Ostdeutschland manches Jahr an zusätzlicher Lebenszeit geschenkt.