In Deutschland erhalten nahezu alle Männer und Frauen, die 65 Jahre oder älter sind, eine gesetzliche Rente. Denn selbst wer nur wenige Jahre lang in die Rentenkasse eingezahlt hat, wie beispielsweise viele Selbstständige, kann geringe Rentenansprüche erwerben. Fast ein Jahrhundert lang lag das gesetzliche Renteneintrittsalter hierzulande bei 65 Jahren. Unter bestimmten Voraussetzungen durften die Menschen jedoch schon mit 60 Jahren in Altersrente gehen, ohne größere finanzielle Abstriche machen zu müssen. Eine Erwerbsminderungsrente, einst Berufs- beziehungsweise Erwerbsunfähigkeitsrente genannt, konnte noch früher bezogen werden.
Wie Stephan Kühntopf vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden und Thusnelda Tivig vom Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels in der Fachzeitschrift European Journal of Epidemiology berichten, wurde von der Möglichkeit einer frühen Altersrente in der Vergangenheit oft Gebrauch gemacht. Die Wissenschaftler haben die Daten von sämtlichen deutschen Rentnern der Jahre 2003 bis 2005 analysiert. Demnach hörten 21,1 Prozent der Männer und 38,1 Prozent der Frauen bereits mit 60 Jahren auf zu arbeiten. Nur 25 Prozent der männlichen und 31,2 Prozent der weiblichen Rentner hielten bis zum Schluss durch und kehrten dem Berufsleben erst mit 65 Jahren den Rücken zu. Das mittlere Renteneintrittsalter der Männer und Frauen lag bei 61,6 Jahren.
Abb. 1: Die Abbildung zeigt, wie sich das Renteneintrittsalter deutscher Frauen und Männer auf die verbleibende Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren auswirkt. Demnach sterben die Menschen deutlich früher, wenn sie bereits vor Erreichen des 60. Lebensjahres in Rente gegangen sind. Quellen: Deutsche Rentenversicherung (Daten aus den Jahren 2003-2005), eigene Berechnungen.
Geht man von einer durchschnittlichen Lebenserwartung aus, belastet ein früher Renteneintritt die Rentenkassen stärker als ein später Rentenbeginn. Aber leben die Menschen, die – vielfach aus gesundheitlichen Gründen – bereits mit 60 Jahren in Rente gehen, wirklich ebenso lang wie jene, die bis 65 arbeiten? Kühntopf und Tivig wollten genau das herausfinden. Ihre Ergebnisse zeigen deutlich: Die Lebenserwartung deutscher Männer hängt stark vom Renteneintrittsalter ab. Bei Frauen ist dieser Zusammenhang, insbesondere wenn diese erst mit 60 Jahren oder später in Rente gehen, sehr viel geringer ausgeprägt (s. Abb. 1).
Ein deutscher Mann, der mit 55 Jahren erstmals eine Erwerbsminderungsrente bezogen hatte, konnte zum Zeitpunkt der Analyse im Alter von 65 Jahren im Schnitt noch mit einer weiteren Lebenszeit von 13 Jahren rechnen. Männer, die bis zum Alter von 65 Jahren gearbeitet hatten, durften dann hingegen noch auf weitere 17,3 Jahre hoffen. Den Untersuchungen zufolge steigt die Lebenserwartung zweimal sprunghaft an: bei einem Renteneintrittsalter von 60 und einem von 63 Jahren. „Das liegt vermutlich daran, dass Männer, die vor ihrem 60. Geburtstag in Rente gingen, vielfach gesundheitliche Probleme hatten“, sagt Tivig. „Mit 60 Jahren stellten hingegen auch viele Langzeitarbeitslose und mit 63 Jahren die besonders langjährig Versicherten den Rentenantrag.“
Dass die Lebenserwartung nach einem Renteneintrittsalter von 64 Jahren noch einmal leicht sinkt, könnte unter anderem daran liegen, dass viele Menschen, selbst wenn sie gesundheitliche Probleme hätten, aus finanziellen Gründen gezwungen seien, bis 65 zu arbeiten, spekuliert die Forscherin: Vorher hätten sie womöglich gar keinen Anspruch auf eine Rente.
Tivig und ihr Kollege untersuchten auch, inwiefern sämtliche vom Rentenversicherer anerkannte Krankheitsphasen die Sterblichkeit der Rentner beeinflussen. Dabei stellten sich vor allem zwei Dinge heraus. Erstens ist die Sterblichkeit bei jedem Renteneintrittsalter abhängig von der Dauer vorangegangener Krankheitsphasen. Legt man zweitens eine bestimmte Krankheitsdauer zugrunde, sinkt die Sterblichkeit mit der Höhe des Renteneintrittsalters. Die Wahrscheinlichkeit, schon vor dem 72. Geburtstag zu sterben, ist den Berechnungen zufolge unter den Empfängern einer Altersrente am höchsten bei Männern, die bereits mit 60 Jahren in Rente gingen und davor mindestens vier Monate lang krank waren, und am niedrigsten bei Männern, die mit 64 Jahren aufhörten zu arbeiten und davor niemals ernsthafte gesundheitliche Probleme hatten (s. Tab. 1).
Tab. 1: Die Tabelle zeigt, wie wahrscheinlich es ist, dass ein 65-jähriger deutscher Mann bei einem Renteneintrittsalter zwischen 60 und 65 Jahren und Anrechnungszeiten wegen Krankheit von null, ein bis drei oder vier oder mehr Monaten vor seinem 72. Geburtstag stirbt. Alle Angaben sind in Prozent. Quellen: Deutsche Rentenversicherung (Daten aus den Jahren 2003-2005), eigene Berechnungen.
Zwar zeigten ihre Daten, dass Männer und insbesondere Frauen in Deutschland dazu tendierten, so früh wie gesetzlich möglich in Rente zu gehen, schreiben die Forscher. Dennoch hätten die erhöhte Sterblichkeit der Frührentner und die daraus resultierende kürzere Rentenbezugszeit zur Folge, dass die Lasten für das deutsche Rentensystem insgesamt geringer sein könnten als allgemeinhin angenommen. Für die aktuellen und zukünftigen Neurentner seien die Ergebnisse aufgrund der vielen rentenrechtlichen Veränderungen, insbesondere beim Thema Frühverrentung, allerdings nur bedingt aussagekräftig, gibt Stephan Kühntopf zu bedenken. Weitere Studien zu dem Thema können daher mit Spannung erwartet werden.