Wer seinen 85., 95. oder gar 100. Geburtstag feiert, hat viele seiner Weggenossen bereits überlebt. Dennoch lassen sich auch in dieser Gruppe der über 85-Jährigen noch deutliche Unterschiede in der Gesundheit feststellen. Zwar nehmen bei allen Menschen die Krankheiten im Laufe des Alters zu, allerdings leiden Menschen, die später ein sehr hohes Alter erreichen werden, im Schnitt an deutlich weniger Erkrankungen als ihre Altersgenossen, schreiben Gabriele Doblhammer und Alexander Barth vom Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels. Entscheidend für besondere Langlebigkeit könnte den beiden Forschern zufolge vor allem eine deutlich selteneres Auftreten von Demenzen und chronischen Herzkrankheiten sein.
Doblhammer und Barth haben für ihre Studie umfassende Daten der Krankenkasse AOK aus der Zeit von 2004 bis 2013 ausgewertet, um herauszufinden, welche Krankheiten wie häufig auftauchen und inwieweit sich die Gesundheit besonders langlebiger Menschen von anderen unterscheidet. Dafür teilten sie die Versicherten in zwei Altersgruppen auf: Bei den älteren Versicherten, die zwischen 1908 und 1913 geboren waren, untersuchten die Forscher, an welchen Krankheiten sie von ihrem 95. Geburtstag bis zu ihrem Tod oder bis zum Erreichen des 100. Lebensjahres litten. So konnte die Krankengeschichte von fast 3000 Menschen ab dem 95. Geburtstag verfolgt werden. Knapp 500 von ihnen erreichten das 100. Lebensjahr. Bei den jüngeren Kohorten, die zwischen 1918 und 1923 geboren wurden, konnten Daten von über 17.000 Versicherten ausgewertet werden. Die Wissenschaftler starteten hier beim 85. Geburtstag und verfolgten die Krankengeschichten bis zum Tod oder bis zum 90. Geburtstag, den rund die Hälfte dieser Gruppe noch erlebte.
Ob Lungenentzündung, Bluthochdruck, Knochenbruch oder Herzerkrankungen – aus den Daten der Versicherten ließ sich genau herauslesen, welche Krankheiten während des Untersuchungszeitraumes diagnostiziert wurden. Um Fehldiagnosen auszuschließen, wurden Demenzen jedoch nur dann erfasst, wenn sie durch eine zweite Diagnose bestätigt worden waren.
Bei den 95- bis 100-Jährigen waren demnach die Herzinsuffizienz und andere chronische Herzerkrankungen wie Kardiomyopathie (folgend als Summenkategorie „andere chronische Herzerkrankungen“ bezeichnet) mit 59 Prozent am häufigsten, dicht gefolgt von Demenzen (53%) sowie ischämischen Herzkrankheiten (47%) und zerebrovaskulären Krankheiten, zu denen der Schlaganfall zählt (44%). Zudem litten 73 Prozent an Bluthochdruck, 30 Prozent an Diabetes und 28 Prozent an Nierenkrankheiten. An Depressionen waren 22 Prozent erkrankt und 33 Prozent waren schwerhörig. Nur eine kleine Minderheit litt an Krebs oder Parkinson. Auch Erblindung trat eher selten auf.
Bei den 85- bis 90-Jährigen waren noch deutlich weniger Menschen (32%) an Demenzen erkrankt. In dieser Altersgruppe waren vor allem die anderen chronischen Herzerkrankungen (50%) und die ischämischen Herzkrankheiten (49%) weit verbreitet. Bluthochdruck (86%) und Diabetes (39%) waren in dieser Altersgruppe verbreiteter als bei den 95- bis 100-Jährigen.
Abb. 1: Hochaltrige leiden im Vergleich zur übrigen Bevölkerung bereits in jüngeren Jahren an weniger Erkrankungen. Demenzen und chronische Herzerkrankungen wie Herzinsuffizienz und Kardiomyopathie treten bei ihnen in jedem Alter seltener auf. Quelle: AOK, eigene Berechnungen
Um zu sehen, inwieweit sich die Gesundheit besonders langlebiger Menschen von anderen unterscheidet, haben Gabriele Doblhammer und Alexander Barth die Versicherten auch nach dem Alter zum Todeszeitpunkt aufgeteilt und die Prävalenz der Erkrankungen berechnet. Als Prävalenz wird der Anteil der Erkrankten an der Bevölkerung bezeichnet. Die Gruppe der Versicherten, die nicht starben, sondern ihren 90. bzw. 100. Geburtstag erlebten, hatten demnach vor allem bei den Demenzen und den anderen chronischen Herzerkrankungen einen deutlichen Vorteil (s. Abb. 1). Obwohl für alle die Prävalenz der Erkrankungen mit dem Alter zunimmt, so sind diese bei den Überlebenden eines Alters doch teilweise nur halb so hoch wie bei den Versicherten, die zu einem bestimmten Alter verstarben. Während etwa in der Gruppe der Langlebigen, die ihren 100. Geburtstag erreichten, im Alter von 95 nur 28 Prozent an Demenz erkrankt waren, waren es bei den 95-Jährigen, die noch im gleichen Jahr sterben mussten, mit 54 Prozent fast doppelt so viele. In der Gruppe der Versicherten, die zwischen dem 97. und 99. Geburtstag verstarben, erreichte der Anteil im Todesjahr mit 70 Prozent seinen maximalen Wert. Die Gruppe der 100-Jährigen liegt deutlich unter diesem Wert. Beim Erreichen des 100. Geburtstag sind nur gut die Hälfte von ihnen an Demenzen erkrankt. Für die jüngeren Kohorten gilt Ähnliches: Auch hier sind in jedem Alter diejenigen, die ihren 90. Geburtstag noch feiern können, bei Demenz- und Herzerkrankungen im deutlichen Vorteil gegenüber Menschen, die zwischen dem 85. und dem 90. Geburtstag verstarben.
Die Prävalenz von Bluthochdruck und Diabetes sowie Depressionen, Blindheit oder Schwerhörigkeit war dagegen bei den älteren Jahrgängen nicht vom Alter zum Zeitpunkt des Todes abhängig (s. Abb. 2). Hier hatten Langlebige also keinen Vorteil. Diese Krankheiten erhöhten allerdings auch das Sterberisiko kaum. Im Gegensatz dazu wirken sich Demenzen sehr deutlich auf die Überlebenschance von alten Menschen aus (s. Abb.3). Während das Sterberisiko bei der älteren Versichertengruppe im Falle einer Demenzerkrankung um 63 Prozent stieg, war der Anstieg bei der jüngeren Versichertengruppe mit 111 Prozent sogar mehr als doppelt so hoch. Auch bei der Gruppe der anderen Herzerkrankungen nimmt das Sterberisiko deutlich zu: Bei den Jüngeren stieg das Risiko, dass sie vor dem 90. Geburtstag sterben, im Falle einer Herz-Erkrankung wie Herzinsuffizienz oder Kardiomyopathie um 78 Prozent. Traten diese Krankheiten bei Versicherten der älteren Gruppe auf, so stieg ihr Risiko, vor dem 100. Geburtstag zu sterben, um 42 Prozent.
Abb. 2: Bei Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck und Depressionen haben Langlebige meist keine gesundheitlichen Vorteile, sie beeinflussen das Sterberisiko allerdings kaum. Eine akute Lungenentzündung dagegen führt oft direkt zum Tod. Quelle: AOK, eigene Berechnungen
Ebenfalls mit einem höheren Sterberisiko sind in beiden Gruppen Krebserkrankungen von Rauchern und Nierenerkrankungen verbunden. Allerdings sind davon nur vergleichsweise wenige Menschen betroffen. Deutlich häufiger sind dagegen zerebrovaskuläre Erkrankungen wie Schlaganfall, die das Sterberisiko ebenfalls um 14 Prozent bei den Älteren und um 30 Prozent bei den Jüngeren ansteigen lassen. Bei Demenzerkrankungen führen oft eine akute Lungenentzündung oder akute ischämische Herzerkrankungen zum Tode (vgl. Abb. 2). Im Falle einer solchen akuten Krankheit steigt daher das Sterberisiko um ein Vielfaches.
Abb. 3: Vor allem bei Demenz und bei Herzerkrankungen, die nicht auf Durchblutungsstörungen zurückzuführen sind, steigt das Sterberisiko erheblich. Quelle: AOK, eigene Berechnungen
Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass das Auftreten von Erkrankungen und damit auch die Pflegebedürftigkeit zusätzlich zum Alter der Menschen von der verbleibenden Lebenszeit bis zum Tod abhängt. Insofern, so schreiben Doblhammer und Barth, müsse ein hohes Alter nicht unbedingt mit einem höheren Pflegebedarf zusammenhängen, da die überlebenden Hochaltrigen gesundheitlich positiv selektiert sind und in jedem Alter gesünder waren als ihre verstorbenen Altersgenossen. Den 100. Geburtstag feiert man vor allem, wenn man nicht an Demenz erkrankt. Denn Alzheimer und andere Demenzerkrankungen stehen in ihrer Bedeutung für das Überleben noch vor den Herzerkrankungen. Die beiden Autoren weisen allerdings auch darauf hin, dass andere Krankheiten, die nicht lebensbedrohlich sind, aber die Lebensqualität mindern, nicht aus dem Blickfeld geraten dürften. So zeigte ihre Analyse, dass Depressionen auch bei den Langlebigen mit dem Alter zunehmen. Ein Aspekt, der aufgrund der starken körperlichen Konstitution vieler Hochbetagter, leicht aus dem Blickfeld geraten könne.