ISSN 1613-8856

Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB)

Zwischen Zufall und Lebensentscheidung

2019 | Jahrgang 16 | 3. Quartal

Keywords: Fertilitätsverhalten, Entscheidungsheuristik, Dyadische Beziehung, Theorie des geplanten Verhaltens, Lebensverlaufsanalyse

Mitautorin der wissenschaftlichen Studie: Uta Brehm

Wussten Sie schon früh, ob Sie ein Kind bekommen wollen? Vielleicht auch wann oder wie viele? Oft suchen Studien Antworten auf solche Fragen, damit WissenschaftlerInnen nachvollziehen können, wie sich Kinderwünsche und Geburtenzahlen entwickeln und wodurch sie beeinflusst werden. Die vorherrschende „Theorie des geplanten Verhaltens“ setzt darauf, dass die Befragten sich bewusst mit ihrer Familienplanung auseinandersetzen und wohlüberlegte Entscheidungen treffen. 

Weil Kinder aber längst nicht immer geplant sind und auch viele weitere Faktoren bei der Familiengründung eine Rolle spielen, hat es oft Kritik oder Ergänzungen zu dieser Theorie gegeben. Das habe dazu geführt, dass heute verschiedene Ansätze nebeneinander existierten; gleichzeitig fänden jedoch immer noch einige Einflussgrößen zu wenig Beachtung, kritisieren Uta Brehm und Norbert F. Schneider vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. Um diese Schwächen auszugleichen, schlagen sie ein neues, umfassendes Modell vor, das sogenannte „Modell der Dyadischen Pfade“ (s. Abb. 1). 

Abb1: Insgesamt fünf Aspekte der Fertilität bildet das neue Modell ab: Die Rolle beider Partner­Innen, bewusste Abwägungen oder deren Abwesenheit, die Lebenserfahrungen und anderwei­tige Verhaltensweisen beider PartnerInnen, soziale und gesellschaftliche Bedingungen sowie die Körper. Quelle: eigene Darstellung.

„Dyadisch“ heißt zunächst einmal nur, dass es eben in der Regel zwei Menschen sind, die sich für oder gegen ein Kind entscheiden. In dem Modell werden daher das Verhalten, die Motivation und die Wünsche beider potenzieller Elternteile, der Mütter (f.) und Väter (m.), berücksichtigt. Schließlich sind die Voraussetzungen für Nachwuchs vielfältig: die Partnerschaft muss passen, der richtige Zeitpunkt muss für beide erreicht sein und zwei Körper müssen mitspielen, also fruchtbar sein. 

Umfassende Interviews zu dem Thema zeigten außerdem, dass die Familienplanung oft keinem stringenten Entscheidungsprozess folgt: Ein Viertel bis die Hälfte aller Geburten resultiert demnach aus ungeplanten Schwangerschaften. Oftmals machen sich Menschen auch gar keine näheren Gedanken über ihre Kinderwünsche, weil sie gelernt haben, dass ein Kind einfach dazu gehört. Das neue Modell kann diese vielfältigen Wege zum Kind abbilden (vgl. Abb.1). 

So beeinflussen etwa die eigenen Lebenserfahrungen, z.B. in der Herkunftsfamilie oder in Privatleben und Beruf, die Motivation jedes und jeder Einzelnen für ein Kind. Auch das gesellschaftliche und soziale Umfeld, also die umgebende Kultur oder der Freundeskreis, kann Einfluss darauf nehmen, wie stark ein Kinderwunsch ausgeprägt ist oder ob und wann die Motivation zu einer festen Absicht wird. So kann sich eine Person etwa durchaus ein Kind wünschen, aber aus unterschiedlichen Gründen zu dem Schluss kommen, (zunächst) kein Kind bekommen zu wollen: Zum Beispiel aufgrund fehlender Unterstützung oder Betreuungsmöglichkeiten, einer offenen persönlichen, beruflichen oder finanziellen To-Do-Liste oder dem Gefühl, einfach noch nicht bereit zu sein. Trotz der gefassten Entscheidung für oder gegen ein Kind kann schließlich noch das situative Verhalten oder der Körper einen Strich durch die Rechnung machen: durch eine ungeplante Schwangerschaft etwa oder durch Unfruchtbarkeit. 

Abb. 2: Wenn es zu einer ungeplanten Schwangerschaft kommt, kehrt sich das Modell um: Wissen, Verhalten und Körper haben Fakten geschaffen, mit denen sich beide oder ein Partner im anschließenden Entscheidungsprozess auseinandersetzen müssen. Quelle: eigene Darstellung.

Aus all diesen Faktoren ergeben sich verschiedene Entscheidungs- und Handlungspfade, von denen Brehm und Schneider 14 Varianten aufzählen. Sie reichen von den „gewollt Kinderlosen“, für die früh feststeht, dass sie keinen Nachwuchs bekommen wollen, und den „aufschiebenden Kinderlosen“, die den richtigen Zeitpunkt für ein eigentlich gewünschtes Kind verpasst haben, bis hin zu den „überzeugten Eltern“, die sich bewusst und sehr früh für mehrere Kinder entscheiden, oder den „Zufallseltern“, die ungeplanten Nachwuchs bekommen und so in ihre Elternrolle hineinrutschen. Bei all diesen Pfaden spielen verschiedene Faktoren des Modells unterschiedlich große Rollen: Wird eine Frau etwa unbeabsichtigt schwanger, kehren sich die linke und die rechte Seite des Modells um (s. Abb.2): Die Schwangerschaft führt dazu, dass beide Partner ihre Motivation für ein Kind überprüfen. Dabei sind persönliche und soziale Lebensumstände, aber auch tatsächliche oder vermeintliche Erwartungen des Umfeldes entscheidend. Je nachdem, ob es sich um eine feste Partnerschaft handelt oder eher um eine kurze Bekanntschaft, können beide oder nur ein Elternteil entscheiden, ob das Kind ausgetragen werden soll oder nicht. 

Solche unbeabsichtigten Schwangerschaften ließen sich mit bisherigen Modellen nicht abbilden. Weil sie und andere bisher kaum berücksichtigte Handlungspfade aber durchaus zahlreich vorkämmen, gebe das flexible und umfassende „Modell der Dyadischen Pfade“ nun die Möglichkeit, die Theorie wieder mit dem echten Leben zu versöhnen und die Bandbreite der verschiedenen Ansätze zu vereinen, schreiben Brehm und Schneider.

Literatur

  • Brehm, U. and N. F. Schneider: Towards a comprehensive understanding of fertility: the model of dyadic pathways. Comparative Population Studies 44(2019), 3-36.
    DOI: 10.12765/CPoS-2019-01en

Titelseite dieser Ausgabe

Aus Ausgabe 2019/3

Artikel

Infoletter

Der kostenlose Infoletter erscheint viermal jährlich und ist sowohl als elektronische wie auch als Druckversion erhältlich.