ISSN 1613-8856

Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels

Kinderwunsch: Darf man nachhelfen?

2019 | Jahrgang 16 | 3. Quartal

Keywords: Akzeptanz der Reproduktionsmedizin, Familiennormen, Migrantinnen, Deutschland

Wissenschaftliche Mitautorin der Studie: Nadja Milewski

Die meisten der befragten Frauen stehen der Reproduktionsmedizin generell offen gegenüber. Das zeigt eine Befragung, die Nadja Milewski von der Universität Rostock und Sonja Haug von der Ostbayrischen Technischen Hochschule Regensburg ausgewertet haben. Demnach gibt lediglich jede zehnte Frau an, solche Methoden für sich selbst abzulehnen (s. Abb. 1). Entgegen der Erwartungen zeigt sich jedoch, dass Deutsche ohne Migrationshintergrund den Reproduktionstechnologien am kritischsten gegenüberstehen. Grundlage der Studie ist eine Befragung von 960 Frauen im Alter von 18 bis 50 Jahren, unabhängig davon, ob sie selbst einen Kinderwunsch oder Fertilitätsprobleme hatten. Gut drei Viertel der Studienteilnehmerinnen haben einen Migrationshintergrund und familiäre Wurzeln in den GUS-Staaten (26 Prozent), in Polen (20 Prozent), der Türkei (20 Prozent) oder dem Balkan (16 Prozent). Erhoben wurden die Daten in dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt NeWiRe an der OTH Regensburg.

Einstellungen zur  Reproduktionsmedizin nach Herkunftsland

Einstellungen zur Reproduktionsmedizin nach Herkunftsland

Abb.1: Antworten auf die ganz allgemeine Frage: „Würden Sie medizinische Verfahren nutzen, wenn Sie einen Kinderwunsch hätten, aber auf natürlichem Weg nicht schwanger werden könnten?“ Anders als vermutet sind vor allem Migrantinnen aus Polen sehr offen gegenüber Reproduktionstechnologien. Vergleichsweise skeptisch sind einheimische Frauen in Deutschland und Migrantinnen, die aus den Balkanländern stammen. Quelle: NeWiRe survey 2014/2015, eigene Berechnungen

 

Eigentlich hatten die beiden Wissenschaftlerinnen angenommen, dass die Akzeptanz der Reproduktionsmedizin auch vom gesellschaftlichen Klima der jeweiligen Herkunftsländer abhängig ist. In Polen etwa hat es vergleichsweise lange gedauert, bis überhaupt legale Rahmenbedingungen für verschiedene Reproduktionstechnologien geschaffen wurden. Zudem ist der Anteil der Frauen, die tatsächlich solche Verfahren anwenden, im europäischen Vergleich in Polen am niedrigsten. Im Gegensatz dazu wurde bei Frauen aus den ehemaligen GUS-Staaten die größte Offenheit gegenüber der Reproduktionsmedizin erwartet. Denn in diesen Ländern ist die Gesetzgebung am liberalsten. In Russland etwa sind nicht nur gängige Verfahren wie die künstliche Befruchtung, sondern auch Samen- und Eizellspende oder so kontroverse Methoden wie Embryonenspende und Leihmutterschaft erlaubt. Deutschland rangiert sowohl bei den legalen Bedingungen als auch bei der Inanspruchnahme  der Methoden im europäischen Mittelfeld. 

Tatsächlich scheinen die Gesetzgebung und der gesellschaftliche Diskurs über die Reproduktionsmedizin für die individuellen Einstellungen von Frauen allerdings nicht so entscheidend zu sein: Drei Viertel der Frauen mit polnischen Wurzeln stimmten der Aussage zu, dass ungewollt kinderlose Paare Reproduktionstechnologien nutzen sollten. Bei Frauen ohne Migrationshintergrund waren es dagegen nur zwei Drittel. Demgegenüber lag die Zustimmung bei Frauen aus der Türkei und aus den Balkanländern (70 Prozent) sowie aus ehemaligen GUS-Staaten (73 Prozent) im Mittelfeld. Ein nur wenig anderes Bild zeigt sich bei der Frage, ob die Frauen bei sich selbst reproduktionsmedizinische Verfahren anwenden würden. Erneut antworteten lediglich 55 Prozent der Frauen ohne Migrationshintergrund eindeutig mit „Ja“. Bei Befragten aus den ehemaligen GUS-Staaten, aus der Türkei oder aus Polen sind dies dagegen mit 71 bis 79 Prozent deutlich mehr. Frauen aus den Balkanländern liegen mit 64 Prozent im Mittelfeld. Interessanterweise ändert sich an diesem Muster auch dann nur wenig, wenn Unterschiede im Alter, in der Bildung, religiöse Zugehörigkeiten oder auch unterschiedliche Auffassungen zu den Geschlechterrollen berücksichtigt werden. Die beiden Autorinnen der Studie gehen daher davon aus, dass eher das allgemeine soziale Klima entscheidend ist, also die Frage, wie hoch die Wertschätzung dafür ist, Kinder zu bekommen und Kinder zu haben. Sie konnten zudem zeigen, dass sich Migrantinnen, die bereits in zweiter Generation in Deutschland leben, in ihren Einstellungen zur Reproduktionsmedizin den Einheimischen annähern: Verglichen mit der ersten Auswanderergeneration nahm bei ihnen die Zustimmung zu reproduktionsmedizinischen Verfahren ab. Die Ergebnisse der Studie gelten so jedoch in erster Linie für die sogenannten homologen Methoden, die ein Paar unterstützen, ihr eigenes biologisches Kind zu bekommen. Bei heterologen Verfahren, bei denen etwa Eizelle oder Samen von anderen Spendern stammen, ist die Zustimmung insgesamt, aber vor allem bei religiösen Frauen deutlich geringer. 

Ein interessanter Nebenaspekt der Studie: Mit sieben Prozent war der Anteil unter den Befragten, die bereits reproduktionsmedizinische Verfahren angewendet haben, höher als bisher angenommen. 

Literatur

  • Haug, S. and N. Milewski: Women’s attitudes toward assisted reproductive technologies - a pilot study among migrant minorities and non-migrants in Germany. Comparative Population Studies 43(2018), 343-370.
    DOI: 10.12765/CPoS-2019-06en

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Aus Ausgabe 2019/3

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