ISSN 1613-8856

Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital

Älter, aber produktiver

2020 | Jahrgang 17 | 2. Quartal

Keywords: Bevölkerungsalterung, Einwanderung, Arbeitskräftebeteiligung, Mikrosimulation, Projektion

Mitautor der wissenschaftlichen Studie: Wolfgang Lutz

Mit Blick auf die Alterung der europäischen Bevölkerung mangelt es nicht an düsteren Prognosen – schließlich zeigt der sogenannte „Altenquotient“ in den nächsten Jahrzehnten eine bedenkliche Entwicklung: Kommen derzeit etwa in Österreich und Deutschland noch circa drei Menschen im Alter von 20-64 auf einen über 65-Jährigen, so werden es im Jahr 2060 nur noch 1,5 sein. Für die Rentenkassen und die Gesundheitssysteme könnte das eine starke Belastung bedeuten, so die Befürchtung. Doch der Altenquotient allein sei für die wirtschaftliche Entwicklung und die Sozialsysteme nicht entscheidend, schreiben Guillaume Marois, Alain Bélanger und Wolfgang Lutz vom Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital in Wien in einer aktuellen Studie im renommierten Journal PNAS. Denn er könne viele wichtige Trends und Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt nicht abbilden. Anstatt nur auf das Alter der Bevölkerung zu schauen, müsse vielmehr die Arbeitsleistung der Menschen in den Vordergrund rücken: Wer arbeitet wie viel, wie lange und wie produktiv (vgl. Abb. 1)? Wie groß die Unterschiede hier ausfallen können, zeigt bereits ein Blick auf verschiedene europäische Länder: Während etwa in Italien vergleichsweise wenige Frauen und ältere Menschen arbeiten, ist die Bevölkerungspyramide nach Arbeitsmarktbeteiligung in Schweden bereits viel breiter aufgestellt (vgl. Abb.2). Anstatt also nur den Anteil von Älteren im Vergleich zu Jüngeren zu betrachten, sei es sinnvoller zu schauen, wie sich der Arbeitskraftquotient (labor-force dependency ratio, LFDR) entwickelt: Dieser Quotient setzt alle wirtschaftlich inaktiven Personen ins Verhältnis zu allen wirtschaftlich aktiven – ganz gleich, wie alt diese sind (s. Abb. 1). Darüber hinaus führen die Autoren der Studie einen weiteren Indikator ein, der auch die durch das Einkommen geschätzte unterschiedliche Produktivität der Bildungsgruppen berücksichtigt: den produktivitätsabhängigen Arbeitskraftquotienten (productivity-weighted labor-forcedependency ratio, PWLFDR). Denn gemessen an den Einkommensdaten zwischen 2004 bis 2017 verdienten gut Gebildete in der EU knapp 1,7 mal so viel wie die mittlere Bildungsgruppe – und zahlten demnach auch mehr Steuern und höhere Beiträge für die Sozialversicherung. Gering Gebildete dagegen verdienen im Schnitt 34 Prozent weniger als Menschen mit mittlerem Bildungsniveau. Je nachdem wie groß die drei Bildungsgruppen in der Bevölkerung sind und wie sich ihre Anteile in Zukunft verschieben werden, kommen diese Faktoren in dem neu eingeführten Quotienten zum Tragen. 

Verhältnis der nichtarbeitenden zur arbeitenden Bevölkerung nach verschiedenen Messmethoden (EU-28)

Verhältnis der nichtarbeitenden zur arbeitenden Bevölkerung nach verschiedenen Messmethoden (EU-28)

Abb.1: Bis zum Jahr 2060 steigt der Anteil der über 65-Jährigen gemessen an der übrigen Arbeitsbevölkerung (15- bis 64-Jährige) sehr stark (grüne Linie). Schaut man jedoch auf den Anteil der wirtschaftlich Aktiven im Vergleich zu den wirtschaftlich Inaktiven (rote Linie) oder auf die Produktivität der beiden Gruppen (blaue Linie), verändert sich das Verhältnis bei weitem nicht so dramatisch. Im Gegenteil: Es sind sogar Szenarien denkbar, nach denen sich der Abhängigkeitsquotient in den kommenden Jahrzehnten verbessert (blaue gestrichelte/gepunktete Linien). Quelle: Eigene Berechnung mittels Mikrosimulation

Geht man nun davon aus, dass sich die Geburtenrate, die Sterblichkeit, die Migration, die Arbeitsmarktbeteiligung und das Bildungsniveau ähnlich wie in der jüngsten Vergangenheit entwickeln („business-as-usual-Szenario“), zeigen sich bei den drei Quotienten bereits deutliche Unterschiede (vgl. Abb. 1). Während der Altenquotient bis 2060 um dramatische 62 Prozent ansteigt, verzeichnet der Arbeitskraftquotient lediglich einen Anstieg von 20 Prozent, der produktivitätsabhängige Arbeitskraftquotient wächst sogar nur um zehn Prozent. Das bedeutet: Die Bevölkerung wird in diesem Szenario durchaus älter, aber dadurch dass Frauen in größerem Umfang arbeiten oder Ältere erwerbstätig bleiben, verschiebt sich der Abhängigkeitsquotient zwischen der arbeitenden und nicht arbeitenden Bevölkerung nicht so stark. Zudem sorgt eine höhere Produktivität der arbeitenden Menschen für eine weitere Entlastung. Die europäischen Staaten haben über dieses „business-as-usual-Szenario“ hinaus natürlich auch die Möglichkeit, die Bildung als Determinante der Produktivität, die Länge des Arbeitslebens, die Erwerbstätigkeit von Frauen sowie Art und Umfang der Migration zu beeinflussen. Um das in dem neu eingeführten produktivitätsabhängigen Arbeitskraft-Quotienten (PWLFDR) berücksichtigen zu können, haben Wolfgang Lutz und seine Kollegen sieben verschiedene Zukunftsszenarien untersucht.

Abb.2: Der Anteil der wirtschaftlich inaktiven Menschen (rosa) ist in Schweden deutlich kleiner als in Italien – das gilt vor allem für die Frauen. Auch ist der Anteil der gut Gebildeten hier größer. Quelle: European Labor Force Survey 2015, eigene Berechnung mittels Mikrosimulation 

Das Grundszenario (s. Abb. 1, blaue durchgezogene Linie) schreibt die Entwicklungen der letzten Jahre fort: Es rechnet weiterhin mit einer Nettomigration in die EU von etwa einer Millionen Menschen pro Jahr und geht davon aus, dass die Zusammensetzung der Migranten und ihre Integration am Arbeitsmarkt weitestgehend gleich bleibt. Das zweite Szenario („Schweden“, s. Abb. 1, blaue gestrichelte Linie) setzt voraus, dass die Bevölkerung, vor allem ältere Menschen und Frauen, in Europa bis 2050 im gleichen Umfang arbeiten wie das in Schweden bereits heute der Fall ist. Das dritte Szenario („Kanada“, nicht abgebildet) orientiert sich an dem kanadischen Immigrationssystem und sieht eine Verdopplung der Einwanderung nach Europa vor, sowie eine stärkere Auswahl von Migranten mit höherer Bildung, während die Integration der Migranten auf dem Arbeitsmarkt allerdings der des Grundszenarios entspricht. Das vierte Szenario („Schweden/Kanada“, s. Abb. 1, blaue gepunktete Linie) ist eine Kombination aus Szenario 2 und 3.

Wolfgang Lutz und seine Kollegen rechnen in ihrem Paper noch weitere Szenarien durch, die sich jeweils an länderspezifischen Entwicklungen orientieren. Bei vier der insgesamt sieben Szenarien wird sich der produktivitätsabhängige Arbeitsmarktquotient (PWLFDR) in den kommenden vier Jahrzehnten nicht verschlechtern oder sogar verbessern. Die Szenarien „Schweden“ und „Schweden/Kanada“ bilden eine besonders positive Entwicklung ab und zeigen damit, dass eine höhere Arbeitsmarktbeteiligung von Älteren und Frauen die Effekte der Alterung ganz erheblich abmildern kann. Dann, so zeigen es die Berechnungen, könnten wir 2060 sogar besser dastehen als heute. Welches Szenario dabei für welches Land am besten geeignet ist, ist durchaus unterschiedlich (vgl. Abb. 3). Denn sowohl der Status quo als auch die Entwicklungen unter den verschiedenen Szenarien, unterscheiden sich zwischen den europäischen Ländern sehr stark. Im Jahr 2015 etwa hatte Italien den höchsten Abhängigkeitsquotienten, der 44% über dem EU-Durchschnitt lag, gefolgt von Kroatien (+20%) und Malta (19%). Am unteren Ende befinden sich Litauen (-23 %) Estland (-21%) und Schweden (-20%). Unter dem Basisszenario wird sich der Quotient in den meisten Ländern verschlechtern – allerdings mit erheblichen Unterschieden: In Griechenland etwa steigt die Abhängigkeitsbelastung bis 2060 um fast 50 Prozent, während sie in der EU insgesamt nur um 11% steigt und in Italien sogar um 26 Prozent abnimmt. Deutlich positiver sehen die Entwicklungen für fast alle Länder unter den Szenarien 2 (Basisszenario kombiniert mit schwedischer Erwerbsbeteiligung) und 5 (kanadische Migrationspolitik mit guter Integration) aus. In beiden Fällen würde die Abhängigkeitsbelastung in der EU insgesamt sogar abnehmen (um 9 bzw. 7 Prozent).

Abb.3: Europäische Vielfalt: Je geringer ein Wert ist, desto positiver ist das Verhältnis von produktiver zu inaktiver Bevölkerung. Quelle: eigene Berechnung mittels Mikrosimulation

Vor diesem Hintergrund scheint die Angst vor dem demografischen Wandel übertrieben zu sein. Forciert wurde sie, so schreiben Wolfgang Lutz und seine Kollegen, weil das Problem lange Zeit durch den „Altenquotienten“ versinnbildlicht wurde. Dieser Quotient aber vereinfacht die Entwicklung viel zu stark und ist daher für eine Analyse, wie sich die arbeitende und nicht arbeitende Bevölkerung in Zukunft entwickeln wird, ungeeignet. Vielmehr zeige eine differenziertere Sichtweise, dass europäische Länder auch ohne sehr hohe und unrealistische Zuwanderungsraten die Folgen des demografischen Wandels auffangen können.

Literatur

  • Marois, G., A. Bélanger and W. Lutz: Population aging, migration, and productivity in Europe. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America [First published online: 23 March 2020].
    DOI: 10.1073/pnas.1918988117

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Aus Ausgabe 2020/2

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