Anne Fink, Constantin Reinke und Gabriele Doblhammer vom Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels und der Uni Rostock sowie Kathrin Heser und Michael Wagner vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) haben für ihre Studie knapp 100.000 Patientendaten über einen Zeitraum von neun Jahren analysiert. Aus einer Stichprobe von 250.000 Menschen, die bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) versichert waren, wählten die Wissenschaftler jene heraus, die zu Studienbeginn älter als 64 Jahre waren. Berücksichtigt wurden dementsprechend alle, die vor 1940 geboren wurden und bei denen bis zum Beginn der Studie in den Jahren 2004 und 2005 keine Demenz oder Depression festgestellt wurde. Am Ende der Studie, im Jahr 2014, war bei jedem achten Versicherten eine Depression diagnostiziert worden. Diese Gruppe diente den Forschern als Grundlage für ihre Untersuchung, inwieweit eine Depression das Risiko für eine Demenz erhöht. Insgesamt wurde im Studienzeitraum etwa bei jedem fünften eine Demenzdiagnose gestellt. Tatsächlich gab es dabei aber große Unterschiede, zwischen denjenigen, die nicht depressiv waren, und denjenigen, bei denen zuvor eine Depression festgestellt worden war.
Beobachtet man zum Beispiel 100 über 64-Jährige mit einer Depression über zehn Jahre lang (=1000 Personenjahre), dann entwickeln den Analysen zufolge im Schnitt 62 von ihnen in dieser Zeit eine Demenz. Bei Menschen ohne Depression wären es gerade einmal die Hälfte, nämlich knapp 31 Prozent. Je schwerer eine Depression dabei ist, desto höher ist das Risiko für eine Demenz.
Darüber hinaus zeigt die Analyse bekannte Muster: Frauen erkranken häufiger als Männer an Demenz, mit dem Alter nehmen die Fallzahlen zu, und fast alle Erkrankungen von Diabetes über bipolare Störungen bis hin zu Kreislauferkrankungen gehen mit einem erhöhten Demenzrisiko einher.
Doch auch wenn die Wissenschaftler das zusätzliche Risiko von weiteren Krankheiten sowie geschlechts- und altersspezifischen Risiken berücksichtigten und mit einrechneten, ließ sich ein deutlicher Zusammenhang von Depression und Demenz nachweisen: Wurde bei einem der AOK-Versicherten eine Depression diagnostiziert, so war das Risiko, dass auch eine Demenz festgestellt wird, in dem darauf folgenden Quartal rund doppelt so hoch (s. Abb. 1) wie bei Versicherten zu Beginn der Studie, die keine Depression hatten. In den darauffolgenden Quartalen vermindert sich in beiden Gruppen das Risiko für eine Demenz. Allerdings unterschiedlich schnell. Mit Hilfe des so genannten Interaktionseffekts konnten die Forscher zeigen, dass das Risiko bei den Depressiven langsamer sinkt als bei der nicht depressiven Kontrollgruppe. Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen bleibt dadurch etwa drei Jahre lang erhalten. Danach ist das Risiko, eine Demenz zu entwickeln, in etwa gleich groß.
Demenzrisiko nach Geschlecht
Abb.1: Direkt nach einer diagnostizierten Depression haben vor allem männliche Senioren (64+) ein erhöhtes Risiko an Demenz zu erkranken. Quelle: AOK Daten 2004-2015, eigene Berechnungen
Besonders stark ausgeprägt ist der zeitliche Zusammenhang zwischen Depression und Demenz bei Männern. Bei ihnen haben Depressive nach der Diagnose ein zweieinhalb Mal so großes Risiko, an Demenz zu erkranken, wie nicht depressive Männer (s. Tab. 1). Und dieser Unterschied bleibt vergleichsweise lange bestehen. Erst gut drei Jahre nach der Diagnose einer Depression unterscheidet sich das Demenzrisiko nicht mehr von Männern ohne Depressionen.
Veränderung des Demenzrisikos nach einer Depressionsdiagnose
Tab.1: Die Werte geben an, wie stark sich das Demenzrisiko der jeweiligen Gruppe nach einer diagnostizierten Depression erhöht (z.B. 3,8-faches Risiko für 65-74-Jährige). Der Logarithmus über die Zeit veranschaulicht, wie schnell das Demenzrisiko in den folgenden Quartalen sinkt. Je kleiner der Wert, desto langsamer geht das Risiko zurück. Quelle: AOK Daten 2004-2015, eigene Berechnungen
Ein solcher Unterschied findet sich aber nicht nur bei den Geschlechtern, sondern auch bei den verschiedenen Altersgruppen: Hier sind es vor allem die jüngeren Senioren im Alter von 64 bis 74 Jahren, bei denen eine Depression mit einem vergleichsweise hohen Demenzrisiko verbunden ist (s. Abb. 2).
Demenzrisiko nach Alter
Abb.2: Im Gegensatz zu den jüngeren Senioren hat eine Depression bei den über 84-Jährigen kaum noch Auswirkungen auf das Risiko, dement zu werden. Quelle: AOK Daten 2004-2015, eigene Berechnungen
Im ersten Quartal nach der Feststellung einer depressiven Erkrankung steigt das Risiko sogar fast um das Vierfache – ein großer Unterschied, der aber etwa zwei Jahre nach der Diagnose vollkommen verschwunden ist. Bei den 75- bis 84-Jährigen wurde ebenfalls ein 2,3-fach erhöhtes Risiko festgestellt. Bei den über 84-Jährigen dagegen spielt eine depressive Erkrankung für das Demenzrisiko kaum noch eine Rolle.
Die verwendeten Daten der AOK umfassten neben Angaben zum Geschlecht, zu Geburts- und eventuellem Todeszeitpunkt auch alle ambulanten und stationären Diagnosen nach dem internationalen Diagnose-Schlüssel ICD, verschriebene Medikamente sowie die Fachausbildung des behandelnden Arztes. Daher konnten die Diagnosen für die Analyse gründlich überprüft werden: Eine Depressionsdiagnose etwa wurde erst dann berücksichtigt, wenn der Patient stationär behandelt oder eine zweite Diagnose gestellt wurde oder wenn zwei ambulante Diagnosen in unterschiedlichen Quartalen oder durch zwei unterschiedliche Ärzte in demselben Quartal gestellt wurden. Bei der Demenzdiagnose wurde ebenfalls eine zweistufige Überprüfung durchgeführt, um nicht selten auftretende falsch-positive Diagnosen auszuschließen. Auch hier musste eine erste Diagnose durch weitere Diagnosen in unterschiedlichen Quartalen oder von unterschiedlichen Ärzten bestätigt werden.
Die Fachliteratur zeigt, dass Altersdepressionen ein frühes Symptom für eine Demenz sein können – ein Umstand, der durch die Ergebnisse der vorliegenden Studie unterstützt wird. Das bedeutet allerdings nicht, dass Depressionen nicht auch ein Risikofaktor für eine Demenzerkrankung sein können, schreiben die Autoren der Studie. Ein frühes Erkennen und eine frühe Behandlung von Depressionen könnten sich positiv auf das nachfolgende Risiko für kognitive Verschlechterungen und Demenzerkrankungen auswirken. Die Forscher betonen jedoch, dass hierzu noch weitere klinische Studien erforderlich sind.
Gerade bei jüngeren Senioren und bei Männern könnte eine Altersdepression zudem als klinisches Signal für eine beginnende Demenz dienen und damit ein frühes und kostengünstiges Screening auf kognitive Beeinträchtigung ermöglichen. Auch bei Frauen und älteren Senioren sollte das im Blick behalten werden, da das mit einer Depression verbundene Risiko einer Demenz bei ihnen zwar kleiner, aber immer noch deutlich erhöht ist, schreiben die Autoren.