Weit über zwei Millionen Tote, steigende Arbeitslosen-und einbrechende Umsatzzahlen: Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie sind gewaltig und weltweit zu spüren. Der Umgang mit ihren Herausforderungen ist jedoch sehr unterschiedlich. Während in einigen Entwicklungsländern das öffentliche Leben größtenteils weiterläuft, werden in anderen Ländern bereits bei sehr geringen Infektionszahlen Geschäfte, Betriebe und Schulen geschlossen oder auch ganze Städte abgeriegelt. Welches ist nun der richtige Weg, welches der richtige Zeitpunkt und die richtige Länge eines Lockdowns?
Alexia Fürnkranz-Prskawetz vom Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital in Wien hat gemeinsam mit weiteren Demograf*innen und Mathematiker*innen ein dynamisches Optimierungsmodell angewendet, um die Auswirkungen der verschiedenen Strategien berechnen und vergleichen zu können. Dabei kommen die Forschenden aus Wien, den Niederlanden und den USA zu teils überraschenden Ergebnissen. Zum einen ist ein früherer Start des Lockdowns nicht zwangsläufig besser als ein späterer. Darüber hinaus bedeutet ein späterer Beginn nicht unbedingt, dass die Schließungen länger andauern müssen (vgl. Abb. 1). Stattdessen könnte es sogar besser sein, einen spät begonnenen Lockdown früher zu beenden, weil sonst die ökonomischen Härten größer wären als die Vorteile aus dem weiteren Rückgang der Infektions- und Todeszahlen. Berücksichtigt werden bei diesen Modellen stets auch die Kapazitäten der Intensivstationen, so dass eine länger andauernde Überlastung des Gesundheitssystems und damit einhergehende hohe Todeszahlen vermieden werden. Insgesamt zeigt sich, dass auch sehr unterschiedliche Strategien ähnlich gute Ergebnisse erzielen können. Während bei der sogenannten Null-Covid-Strategie durch einen langen Lockdown die Infektionszahlen und damit die gesundheitlichen Kosten sehr gering gehalten werden, kann die Kurve der Infektionszahlen auch durch einen späteren und kürzeren Lockdown abgeflacht werden (s. Abb.1). Dadurch sind die Infektionszahlen und damit die Gesundheitskosten zwar deutlich größer, die ökonomischen Kosten aber geringer als im ersten Fall. Es gibt dabei einen Zeitpunkt im Pandemieverlauf, den sogenannten Skiba-Punkt, zu dem die beiden sehr verschiedenen Strategien gleich gut abschneiden. Auch um diesen Punkt herum sind die Resultate der beiden verschiedenen Strategien sehr ähnlich.
Optimale Lockdownlänge in Abhängigkeit des Start-Zeitpunkts
Abb.1: Je früher ein Lockdown gestartet wird, desto lohnender ist in der Regel auch eine lange Dauer des Lockdowns (graue Flächen). Nach 44 Tagen ist der so genannte Skiba-Punkt erreicht (gestrichelte Linie), an dem es zwei vollkommen verschiedene optimale Endpunkte für den Lockdown gibt. Quelle: https://doi.org/10.1371/journal.pone.0243413.
Und dennoch warnen die Forschenden davor, die Ergebnisse ihrer Modellrechnungen als präzise Anweisung für die Praxis zu lesen. Denn zum einen sind Modelle immer vereinfacht und viele wichtige gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Auswirkungen der Pandemie fließen nicht mit in die Berechnung ein. Zum anderen schwanken die Ergebnisse der Analyse auch sehr stark, je nachdem wie die Parameter, also zum Beispiel die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Kosten von Infektionen und Lockdown-Tagen, festgelegt werden. Denn um den Effekt verschiedener Lockdown-Strategien überhaupt bewerten zu können, müssen die Wissenschaftler*innen eine nahezu unmögliche Beurteilung vornehmen: Es gibt keinen unanfechtbaren Wert für einen verlorenen Arbeitsplatz oder gar für ein menschliches Leben. Genau das aber muss bei einer Modellrechnung beziffert werden. Die Wissenschaftler*innen verdeutlichen in ihrer Studie, dass nur leichte Änderungen der Ausgangsparameter zu ganz anderen Ergebnissen führen können: Je nachdem, wie hoch man etwa die Kosten eines vorzeitigen Todes durch COVID-19 beziffert, gibt es verschiedene Strategien, die sich als optimal erweisen (s. Abb.2). Auch geringe Änderungen bei den ökonomischen Kosten, der Ansteckungsrate von SARS-CoV-2 oder der Zahl der unentdeckten Infektionen können die Ergebnisse der Modellrechnung stark verändern.
Wie viel ist ein Leben wert? Optimaler Lockdown in Abhängigkeit von Kosten für COVID-19-Tod
Abb.2: Je nachdem, wie die Kosten eines vorzeitigen Todes durch COVID-19 bewertet werden, erweisen sich unterschiedliche Lockdown-Strategien als optimal. Werden die Kosten als sehr gering eingestuft, wäre gar kein Lockdown vonnöten, bei sehr hohen ein dauerhafter Lockdown. Quelle: https://doi.org/10.1371/journal pone.0243413.
Weil es aber laufend neue Erkenntnisse über Ansteckungsraten, Mutationen, unentdeckte Infektionen oder auch über Impfchancen und -raten gibt, müsse man mit der Beurteilung von verschiedenen Lockdown-Strategien sehr vorsichtig sein, schreiben die Wissenschaftler*innen in ihrer Studie. Weder die Forschung noch die Politik sollten zu starr an einmal gewonnenen Einsichten und beschlossenen Strategien festhalten, sondern flexibel auf neue Erkenntnisse reagieren. Gleichzeitig müsse man akzeptieren, dass es nicht den einen richtigen Weg im Umgang mit der Pandemie gebe. Insofern soll die Studie den Autor*innen zufolge nicht nur Erkenntnisse über die Wirkung verschiedener Lockdown-Strategien liefern, sondern auch dazu führen, dass Menschen besser miteinander kommunizieren, andere Ansichten akzeptieren und eine gemeinsame Basis finden, um zusammen an dieser großen Herausforderung zu arbeiten.