Max-Planck-Institut für demografische Forschung

Lebenserwartung: Jähes Ende des steten Anstiegs

2021 | Jahrgang 18 | 4. Quartal

Keywords: COVID-19, Lebenserwartung, Sterblichkeit, Demografie, Ländervergleich

Mitautor der wissenschaftlichen Studie: Jonas Schöley

An COVID-19 sind im Jahr 2020 offiziell 1,8 Millionen Menschen gestorben – das entspricht in etwa der Einwohnerzahl Hamburgs. Doch natürlich ist eine solche Zahl mit vielen Unsicherheiten behaftet. Einerseits wurde die Sterblichkeit durch COVID-19 längst nicht in jedem Land genau erfasst, andererseits hat die Frage, ob jemand an oder mit COVID-19 gestorben ist, zu hitzigen Debatten geführt. 

Doch es gibt eine Zahl, in der sich die vielfältigen Auswirkungen der Pandemie auf die Gesundheit einer Bevölkerung relativ gut und vergleichbar zusammenfassen lassen: die durchschnittliche Lebenserwartung. Jonas Schöley vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung und José Manuel Aburto von der Universität Oxford haben daher mit einem internationalen Forscher*innen-Team die Lebenserwartung im Jahr 2020 in vielen europäischen Ländern, den USA, Russland sowie Chile ermittelt und mit Werten aus den Vorjahren verglichen. Dabei analysierten sie auch, inwieweit Veränderungen der Lebenserwartung auf COVID-19 bzw. auf andere Todesursachen zurückzuführen waren (s. Abb.1). 

Verlust/Gewinn an Lebenserwartung im Jahr 2020

Abb. 1: In den meisten Ländern ist der Rückgang der Lebenserwartung bei Geburt 2020 deutlich durch COVID-19 geprägt. Teilweise wird diese Entwicklung durch einen positiven Trend bei der Sterblichkeit durch andere Todesursachen abgemildert (u.a. Belgien, Chile, England & Wales) oder sogar überlagert (Dänemark, Norwegen). 
Quelle: Aburto et al. 2021

In sehr vielen Industrienationen ist die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt im letzten Jahrhundert stetig und verlässlich gestiegen. Insofern verwundert es nicht, dass alle untersuchten Länder seit 2015 eine Zunahme der Lebenserwartung bei Geburt verzeichneten. Sie reichte von einem Monat pro Jahr in Ländern wie Griechenland, Frankreich oder Schottland bis zu drei Monaten pro Jahr in Spanien, Ungarn und Litauen. Zurückzuführen ist dieser Anstieg vor allem auf sinkende Sterberaten bei den über 60-Jährigen. Im Jahr 2020 aber bricht diese stetige Entwicklung fast überallabrupt ab. Lediglich für Frauen in Finnland sowie für beide untersuchten Geschlechter in Dänemark und Norwegen lässt sich ein weiterer Anstieg der Lebenserwartung verzeichnen. Alle anderen Länder aber sehen teils dramatische Rückgänge. Am größten sind sie in den USA sowie in Russland und Bulgarien, wo die durchschnittliche Lebensdauer innerhalb eines Jahres um 2 bzw. um 1,75 und 1,45 Jahre zurückging (s. Abb. 2). Aber auch in neun weiteren Ländern verloren Männer und Frauen zusammen mehr als ein Jahr an Lebenszeit. Zurückzuführen sind die Einbrüche auch hier auf eine Veränderung der Sterblichkeit in den höheren Altersgruppen. Schließlich waren es vor allem über 60-Jährige, die an COVID-19 starben. 

Veränderungen der Lebenserwartung 1970 bis 2020 (in Jahren) 

Abb. 2: Vergleicht man die Entwicklung der Lebenserwartung bei Geburt im Jahr 2020 mit Vorjahreswerten, wird das historische Ausmaß der Pandemie deutlich. Quelle: Aburto et al. 2021

Dass Dänemark und Norwegen eine Ausnahme darstellen, liegt an der gesunkenen Sterblichkeit durch andere Todesursachen als COVID-19 und an einer vergleichsweise geringen Sterblichkeit durch COVID-19 (s. Abb. 1). Auch in Deutschland starben im Vergleich zu 2019 weniger Menschen an anderen Todesursachen als an COVID-19. Dieser Rückgang war aber geringer als in den beiden skandinavischen Ländern, während die Sterblichkeit aufgrund von COVID-19 deutlich höher war. Zusammengenommen verloren Männer in Deutschland gut vier Monate, Frauen zweieinhalb Monate an durchschnittlicher Lebensdauer. Damit gehört Deutschland unter den untersuchten Ländern zu jenen, die 2020 eher glimpflich davon gekommen sind. Mit Griechenland und Estland verzeichnete es die geringsten Rückgänge in der Lebenserwartung. Österreich findet sich ebenso wie Schweden, das bei den Infektionsschutzmaßnahmen einen Sonderweg ging, im Mittelfeld wieder. Beide gehören allerdings dennoch zu jenen Ländern, die im Jahr 2020 bei der Lebenserwartung die größten Verluste seit 1950 erlebt haben. Das gilt ebenso für Spanien, England, Italien, Belgien, Frankreich und die Niederlande. Für viele osteuropäische Staaten ist es hingegen oft der stärkste Einbruch seit dem Zerfall des Ostblocks. Die größten Verluste von eineinhalb Jahren und mehr wurden für Männer in den USA, Russland, Litauen, Bulgarien und Polen sowie für Frauen in Russland, den USA und in Spanien beobachtet. 

Obwohl COVID-19 bekannt dafür ist, dass Männer von der Krankheit stärker betroffen sind und auch höhere Sterberaten haben, gibt es sieben Länder, in denen die Lebenserwartung der Frauen stärker zurückgegangen ist als die der Männer (s. Abb. 3). In Russland etwa verloren die Männer im Jahr 2020 knapp 1,7 Lebensjahre, während es bei den Frauen im Schnitt 1,8 Jahre waren. Schöley und sein Team führen dieses Ungleichgewicht auch darauf zurück, dass das besonders gefährdete Gesundheits-und Pflegepersonal in Russland häufig weiblich ist. Insgesamt gesehen sind die Zahlen in den USA und in Russland auf einem sehr hohen Niveau. In Russland werden für das Jahr 2020 rund 300.000 überzählige Sterbefälle registriert. Eine Zahl, die auch 2021 rapide angewachsen ist und dazu führen wird, dass die Lebenserwartung auch im Jahr 2021 weiter zurückgehen wird. 

Geschlechterdifferenz im Verlust an Lebenserwartung 2020

Abb. 3: Obwohl Männer von COVID-19 stärker betroffen sind als Frauen, ist die Lebenserwartung von Frauen in einigen Ländern stärker zurückgegangen als die der Männer. (Konfidenzintervalle in hellrot/hellgrau) Quelle: Aburto et al. 2021  

Das bedeutet allerdings nicht, dass ein Mädchen, das 2020 in Russland geboren wurde, nun eine um 1,8 Jahre geringere Lebenserwartung hat als ein 2019 geborenes Mädchen. Die sogenannte Perioden-Lebenserwartung ist vielmehr ein theoretischer Wert: Er gibt an, wie alt ein 2020 geborenes Mädchen im Schnitt werden würde, wenn die Lebensbedingungen und die Bevölkerungsgesundheit aus dem Jahr 2020 für sein gesamtes Leben gelten würde. Man müsste also davon ausgehen, dass die Corona-Pandemie sich die nächsten sieben, acht Jahrzehnte in gleicher Weise fortsetzt. 

So wenig der Wert über die tatsächliche Lebensdauer von Neugeborenen aussagt, so viel kann er über die Bevölkerungsgesundheit im Jahr 2020 offenlegen. Denn in dem Wert spiegeln sich die verschiedensten Auswirkungen der Corona-Pandemie wider: angefangen beim Infektionsgeschehen und den COVID-19-Todesfällen über höhere Sterblichkeit aufgrund verschobener Krankenhausbehandlungen oder Arzttermine bis hin zu gesunkener Sterblichkeit im Verkehr während der Lockdowns und der Frage, wie gut das Gesundheitssystem funktioniert. Und diese Auswirkungen, das zeigt die Studie sehr eindrücklich, erreichten in vielen Ländern ein historisches und für die Nachkriegszeit einmaliges Ausmaß.

Literatur

  • Aburto, J. M., J. Schöley, I. Kashnitsky, L. Zhang, C. Rahal, T. I. Missov, M. C. Mills, J. B. Dowd and R. Kashyap: Quantifying impacts of the COVID-19 pandemic through life-expectancy losses: a population-level study of 29 countries. International Journal of Epidemiology [First published online: 26 September 2021.
    DOI: 10.1093/ije/dyab207

Aus Ausgabe 2021/4

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